Zum 1. März begannen Steffi, Anette, Alice und ich die gemeinsame Lektüre von Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ / „Der Report der Magd“. In den seitdem vergangenen drei Wochen hat jede von uns den Roman beendet, was an Atwoods bildgewaltigem Schreibstil, ihrem Gespür für menschliche Emotionen und an dem geschilderten Gesellschaftssystem liegt, das einerseits erschreckend ist, andererseits aber wenig überraschend bzw. ausgesprochen realistisch ist angesichts wiederkehrender Strömungen, die die weibliche Sexualität und Selbstbestimmung einschränken bzw. von Männer kontrollieren lassen wollen.

Bereits auf der ersten Seite entfaltet Atwood eine Szene, die so viel Vertrautes birgt und gleichzeitig bewusst macht, dass die Unbeschwertheit und das, was einst als alltäglich empfunden wurde, längst Vergangenheit geworden ist.

„[…] ich meinte, ich könnte, schwach wie ein Nachbild, den säuerlichen Schweißgeruch riechen, durchsetzt vom süßlichen Kaugummi- und Parfümduft der zuschauenden Mädchen […] Es roch nach früherem Sex und nach Einsamkeit in dem Raum und nach Erwartung, Warten auf etwas, das weder Form noch Namen hatte.“ (S. 11)

In den folgenden Kapiteln offenbart uns Atwood ihr entworfenes Szenario auf sehr subtile Weise. Sie gibt uns wenige Fakten. Eher beiläufig, aber trotzdem prägnant streut Atwood Informationen zur Entstehung und Struktur dieses gesellschaftlichen Systems ein, in dem jeder seinen festen Platz hat und Frauen ausschließlich und trennscharf als Gebärmaschinen, fromme Ehefrauen, regimetreue „Erzieherinnen“, Haushälterinnen oder Prostituierte behandelt werden.

„Er hat ein verbotenes Wort gesagt. Steril. Das gibt es gar nicht mehr, einen sterilen Mann, nicht offiziell. Es gibt nur Frauen, die fruchtbar sind, und Frauen, die unfruchtbar sind, so will es das Gesetz.“ (S. 85)

Leider enthält uns Atwood durch dieses fast beiläufig wirkende Einstreuen auch lange viele Hintergründe vor, die mich interessiert oder mir die Einordnung bestimmter Dinge erleichtert hätten – zum Teil bis zu den „Historischen Anmerkungen“ am Ende des Romans. So rätselten ein paar von uns, was es mit den Namen der Mägde auf sich hat. Ihre ursprünglichen Namen mussten die Mägde, deren einziger Daseinszweck das Gebären neuer Kinder darstellt, ablegen – unsere Protagonistin hütet ihren Geburtsnamen wie einen Schatz und gibt ihn an keiner Stelle preis. Die Namen der Mägde beginnen alle mit „Of“ bzw. in der deutschen Übersetzung mit „Des“. Dass diese die Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Kommandanten aufzeigen, dem die Mägde aktuell „gehören“, wird erst in den Anmerkungen erläutert und zuvor beim Lesen kaum deutlich, zumindest nicht in der deutschen Übersetzung. Da ich bspw. den Namen unserer Protagonistin, „Desfred“, aufgrund eines fehlenden Bindestrichs oder einer anderen optischen Kenntlichmachung, anders betonte bzw. ohne eine Pause zwischen Des und „fred“ las, fehlte mir etwas, das mich beim Lesen auf diese Zusammensetzung aus besitzanzeigendem Pronomen und Namen aufmerksam gemacht hätte.

Zurückhaltend zeigt sich Atwood auch hinsichtlich der weltweiten Situation. Vereinzelt lesen wir von japanischen Touristen, die über die Kleidung der Mägde staunen und von Juden, die nach Israel flohen. Doch wie hat dieses in den USA vorherrschende System das Weltgeschehen beeinflusst? Gibt es Staaten, die dieses System, das Menschen ausschließlich nach Fruchtbarkeit und dem Fehlen oder Vorhandensein von Makeln bewertet, adaptierten? Gibt es Staaten, die sich offen dagegen aussprechen und zu helfen versuchen? Darüber lässt uns die Autorin leider im Unklaren, was nicht zuletzt daran liegt, dass wir die Geschichte ausschließlich aus „Desfreds“ Sicht erleben.

Was Atwood jedoch deutlich macht: Wie schleichend und nahezu unbemerkt sich solche Systeme in Politik und Gesellschaft ausbreiten und wie schnell die Bevölkerung handlungsunfähig gemacht wird. So nahmen sie den Frauen erst ihre finanzielle Unabhängigkeit, in dem sie ihre Konten sperrten und sie ihrer Jobs beraubten, bis sie ihnen schließlich ihre Identität und Freiheit nahmen. Sie unterzogen sie Gehirnwäschen, indem sie die Reduzierung auf starre, gesellschaftliche Funktionen auf die Bibel zurückführten und ihnen einredeten, dass Frauen, die wahre Macht hätten, wo doch nun vorgeschrieben sei, welche Männer in welchen Positionen mit welchen Frauen Geschlechtsverkehr haben dürfen, und wo die Zukunft der Menschheit nach dem starken Rückgang der Geburtenraten angeblich allein von den Mägden abhänge. Damit die Frauen diesen Stuss glauben und aufhören, selbst zu denken oder sich eine eigene Meinung zu bilden, werden ihnen das Lesen, das Schreiben und jegliche andere Form der Bildung oder Freizeitgestaltung verboten. Ihre Tage bestehen aus Einkaufen, Nichtstun und der „Zeremonie“, also dem demütigenden Geschlechtsakt in Anwesenheit aller Bewohner und Bediensteten des Hauses.

„Ich versuche, nicht zu viel zu denken. Wie manches andere neuerdings muss auch das Denken rationiert werden. Es gibt vieles, was kein Nachdenken verträgt.“ (S. 16)

Nicht wenige suchen den Freitod, was jedoch zunehmend schwerer wird. Wer bei dem Versuch, zu fliehen, erwischt wird, der drohen genau wie Wissenschaftlern, Ärzten, die einst Abtreibungen durchführten, oder sonstigen Systemgegnern Verbannung, Folter oder öffentliche Hinrichtung.

„Dass wir weglaufen, davor haben sie keine Angst. Wir würden nicht weit kommen. Es sind die anderen Fluchtwege, die, die wir in uns selbst öffnen können, sofern ein scharfer Gegenstand zur Hand ist.“ (S. 16)

Was all das nur noch schlimmer macht: Niemand kann irgendwem vertrauen, selbst die Frauen, die doch alle entwürdigt wurden, halten nicht zusammen. Jede ist sich selbst die Nächste und wenn eine von ihnen vergewaltigt oder misshandelt wurde oder ihr sonst etwas Grausames widerfahren ist, so sei es ihre eigene Schuld und sie müsse diese Tat irgendwie provoziert haben.

Liest man den Report der Magd, so kann leicht der Eindruck entstehen, dass dieses sexistische System bereits seit Jahrzehnten besteht, tatsächlich hat es in nur wenigen Jahren diese extremen Ausmaße angenommen. Noch vor ein paar Jahren war unsere Protagonistin in einer glücklichen Beziehung, hatte eine Tochter. Die Erinnerung an die gemeinsamen Momente und die ebenfalls noch nicht lange zurückliegende Collegezeit stehen zum Teil in krassem Kontrast zur Gegenwart von „Desfred“ und können der Protagonisten am Ende doch kein Trost sein, da man ihr doch ihre Tochter und ihre große Liebe nahm. Was schlimmer ist – der aktuelle, perspektivenlose und leere Alltag, die Erinnerungen an geliebte Menschen oder die Unwissenheit darüber, was mit diesen passiert ist – lässt sich nicht sagen. Doch wie kann man leben, wie kann man nicht zerbrechen, wenn man um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beraubt worden ist?

In der ersten Hälfte sind all diese Entwicklungen und Fragen, die Margaret Atwood uns Leserinnen präsentiert, erdrückend und beunruhigend. In der zweiten Hälfte des Romans verlor „Der Report der Magd“ jedoch an dieser Vielfalt der Eindrücke, an Tempo und für mich auch an Neuem und an Spannung. Wie die Mägde habe auch ich mich als Leserin an dieses triste Dasein gewöhnt; ein Tag gleicht dem anderen und selbst Entwicklungen, die anfangs eine entscheidende Entwicklung suggerieren, werden zur Routine ohne sonderliche Perspektive. Erst auf den letzten 60 Seiten offenbart uns Atwood dann noch einmal die Grausamkeit, aber auch die Menschlichkeit, die sich unter solch extremen Bedingungen zeigen.

Fazit:

Margaret Atwood hat einen Schreib- und Erzählstil, der mich als Leserin sofort in seinen Bann zieht, und entwirft ein Szenario, das surreal und doch erschreckend gut vorstellbar ist. Dabei schafft es Atwood, im Gegensatz zu ihren Dystopien kreierenden Kolleginnen und Kollegen der letzten Jahre, wirklich ernüchternd zu schreiben: Sie präsentiert uns keine Heldin, die das System zum Einsturz oder auch nur zum Bröckeln bringt, sondern offenbart uns vielmehr die Anfänge eines so unmenschlichen Regimes und sensibilisiert dafür, die frühen Warnzeichen zu erkennen und nicht zu ignorieren. In der zweiten Hälfte des Romans verlor sich die Handlung in meinen Augen etwas zu sehr in der alltäglichen Leere, während zugleich andere, für mich nicht unwichtige Fragen unbeantwortet blieben. Nichtsdestotrotz ist „Der Report der Magd“ ein alarmierendes Buch dafür, wohin Sexismus und religiöser Fanatismus führen können.

„Doch solltest du ein Mann sein, irgendwann in der Zukunft, und es bis hierher geschafft haben, dann bedenke bitte: Du wirst niemals der Versuchung unterworfen sein, das Gefühl zu haben, dass du vergeben müsstest, einem Mann vergeben, als Frau. Es ist schwer, dieser Versuchung zu widerstehen, glaube mir. Aber bedenke, dass Vergeben auch Macht bedeutet. Darum zu bitten bedeutet Macht, und die Vergebung zu verweigern oder zu gewähren bedeutet auch Macht, vielleicht sogar die größte.

Vielleicht geht es bei alledem gar nicht um Herrschaft und Macht. Vielleicht geht es gar nicht darum, wer wen besitzen kann, wer wem ungestraft etwas antun kann, bis hin zum Tod. […] Vielleicht geht es darum, wer wem was antun kann und dafür Vergebung erlangt.“ (S. 182 f.)

Margaret Atwood: „Der Report der Magd“, aus dem Englischen übersetzt von Helga Pfetsch, Berlin Verlag 2017


Alle Beiträge zum Leseprojekt:

Alle Eindrücke unseres gemeinsamen Lesens des Romans könnt ihr auf Twitter via #AtwoodsTales nachlesen.

Hardcover-Ausgabe von "Der Report der Magd" aus dem Berlin Verlag mit Schutzumschlag