Jeder kennt die Geschichte von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, die Geschichte des Mädchens, das sich auf dem Weg zur Großmutter vom Wolf in ein Gespräch verwickeln lässt, entgegen der Worte der Mutter nicht dem direkten Weg folgt und somit sich und die Großmutter zu Opfern des Wolfes macht. Die moralischen Botschaften des Märchens sind so offensichtlich, dass selbst die jüngsten Leser und Zuhörer sie verstehen. Dennoch gehört „Rotkäppchen und der Wolf“ zu den beliebtesten Märchen und wurde im Laufe der Jahrhunderte diversen Überarbeitungen und Neuinterpretationen unterzogen. Die in diesem Jahr im Wunderhaus Verlag erschienene Ausgabe greift auf die Originalversion von Jacob und Wilhelm Grimm zurück, die jedoch ein paar Änderungen erfahren hat: Aufgrund der veränderten Bedeutung der Bezeichnung „Dirne“ wird Rotkäppchen nicht als eben solche vorgestellt, sondern als Mädchen; gerettet werden Protagonistin und Großmutter nicht von einem, sondern von drei Jägern, die zudem den Bauch des Wolfes nicht mit schweren Wackersteinen füllen.

Auch in meiner eigenen Kindheit zählte das Rotkäppchen zu den Lieblingsmärchen, wenngleich ich damals immer wieder den Kopf über die Unvernunft unserer Titelfigur schüttelte: Selbst wir Kleinen im Kindergarten wusste doch schon, dass man nicht mit Fremden redet und wenn die Eltern etwas verbieten, weil es gefährlich sein könnte, hat man sich daran zu halten. Aber auch war und ist Teil der Märchenstunden: Die Erkenntnis, dass man nicht die Fehler machen würde, vor denen in der Erzählung gewarnt wird.

Diese Naivität des Rotkäppchens, die schon fast dem Leichtsinn gleicht, hat Künstler Anton Lomaev in der Ausgabe des Wunderhaus Verlages besonders treffend in einem Bild eingefangen, in welchem das Rotkäppchen gut gelaunt auf einem Seil tanzt – direkt über dem weit geöffneten Schlund des Wolfes, sich der Gefahr nicht bewusst. Sieht man sich Lomaevs Wolf an, fällt es auch leicht, nachzuvollziehen, dass Rotkäppchen ihrem Feind so aufgeschlossen gegenüber tritt: Lomaevs Wolf wirkt charismatisch; er ist stilvoll und adrett gekleidet; ein schelmisches Lächeln umspielt die Lippen; der große Hut und die Augenmaske lenken den Blick weg von den gefährlichen Reißzähnen hin zu den fast hypnotisch wirkenden Augen. Das Böse ist eben nicht immer als solches zu erkennen.

Auch die übrige Gestaltung weiß zu überzeugen. Anton Lomaev hat sich bei seiner Umsetzung von “Rotkäppchen und der Wolf” dafür entschieden, das Märchen zu einem Stück im Stück zu machen: Das Märchen wird in diesem Buch als Theaterstück in einem Dorf aufgeführt. Hinter den Kulissen verstehen sich der Wolf und die anderen Charaktere blendend und natürlich ist der Wolf nie richtig tot, sodass das Buch auch für jene Kinder, die sich um den Wolf sorgen sollten, ein gutes Ende bereithält. In Kombination mit ganzseitigen Illustrationen, die schon vor dem Titelblatt beginnen, sorgt dieses Stück im Stück zudem dafür, dass die Lesenden bereits mitten in der Geschichte stecken, bevor auch nur der erste Satz gefallen ist. Das wirkt auf mich als Leserin einladend und entschleunigend, da ich mir bereits vor dem eigentlichen Anfang die Zeit nehme, die Bilder eingehend zu betrachten – was mich wiederum unbewusst dazu bringt, während der gesamten Märchenerzählung lange auf den einzelnen Seiten zu verweilen, um jedes Detail einzufangen und das Gelesene im Visuellen wiederzufinden. Dabei gibt es durchaus manches Amüsante zu entdecken, wie zum Beispiel die Zwille in Rotkäppchens Tasche oder Großmutters Bettlektüre („Der gestiefelte Kater“).

Fazit:

Künstler Anton Lomaev hat das traditionelle „Rotkäppchen“ der Brüder Grimm in einen passenden Rahmen gesetzt, der gekonnt visualisiert, dass nicht alles ist, wie es scheint und wir das wahre Wesen der Dinge und der Menschen erst sehen, wenn der Vorhang und die Masken fallen.

Brüder Grimm: „Rotkäppchen und der Wolf“, illustriert von Anton Lomaev, Wunderhaus Verlag 2017, ISBN: 978-3-946693-05-5