Das erste Mal begegneten mir der 14-jährige Seita und seine vierjährige Schwester Setsuko in dem Anime „Die letzten Glühwürmchen“. Ich bin wahrlich niemand, den Filme zu Tränen rühren, aber die Geschichte der beiden Geschwister, die 1945 in Japan alles verlieren und um ihr Überleben kämpfen, ging mir extrem nah und zählt in meinen Augen zu den besten Filmen aller Zeiten.

Nachdem ich erfuhr, dass der Anime auf einer Erzählung des japanischen Autors Akiyuki Nosaka basiert, wollte ich unbedingt die Originalgeschichte kennenlernen. Das Problem: Im deutschsprachigen Raum erschien „Das Grab der Leuchtkäfer“ – so der Titel der Erzählung – in den 1990ern bei Rowohlt und wurde seither nie wieder aufgelegt. Das Buch war vergriffen; lediglich bei einem Antiquariat konnte ich es im Bestand finden, doch waren mir die rund 80 € zu teuer für ein Buch, das ursprünglich gerade einmal 10 DM kostete. Auch eine englischsprachige Ausgabe, zu der ich alternativ gern gegriffen hätte, war nicht erhältlich. Also wartete ich. Und wartete. Und wartete. Nach über einem Jahr und diversen Suchaufträgen auf unterschiedlichsten Plattformen fand ich schließlich ein Exemplar für rund 40 € und zögerte trotz des noch immer stolzen Preises nicht lang.

Nun liegt „Das Grab der Leuchtkäfer“ gebunden und gelesen neben mir. Neben der Vorlage für den Anime enthält die deutsche Ausgabe auch die Erzählung „Algen aus Amerika“. Im Grundton könnten beide Geschichten unterschiedlicher kaum sein, doch verbindet sie beide das vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Japan.

In „Das Grab der Leuchtkäfer“ begleiten wir, wie bereits erwähnt, die beiden Geschwister Seita und Setsuko, deren Geschichte auf den persönlichen Erfahrungen des Autors fußt. Im letzten Kriegsjahr wird das Haus von Seitas und Setsukos Familie ausgebombt; von dem an der Front kämpfenden Vater fehlt jedes Lebenszeichen und die Mutter stirbt nach dem Luftangriff. Seita und Setsuko finden zunächst Obdach bei einer Tante, doch wird ihnen schnell klargemacht, dass sie dort unerwünscht sind. Also beschließt Seita, künftig mit seiner Schwester allein zu leben. In einer Höhle finden sie Unterschlupf und schaffen sich dort ein eigenes kleines Reich, in dem nachts das Licht von Glühwürmchen Trost und Geborgenheit spendet. Doch im vom Krieg gebeutelten Japan und im Zuge mangelnder Hygiene und Lebensmittelversorgung beginnt für die Geschwister schnell ein Kampf ums nackte Überleben. Akiyuki Nosaka erzählt dies auf eine recht nüchterne, direkte Art. Gleich zu Beginn lässt er uns wissen, wie die Geschichte ausgeht und lässt uns schonungslos und detailliert am Schicksal von Kriegswaisen und Obdachlosen teilhaben. Die Szene ist kalt, düster und abstoßend. Entsetzt begeben wir uns auf eine Reise zurück zum eigentlichen Anfang der Geschichte und erfahren nach und nach, was Seita und Setsuko in den vorangegangenen Monaten durchlebten.

Der Anime widmet diesen Ereignissen sehr viel Zeit, gibt ihnen hinreichend Raum, um sich zu entwickeln. Die Verfilmung kommt dabei mit wenigen Dialogen aus, lässt stattdessen die Bilder sprechen. Dadurch wirkt Seitas und Setsukos Geschichte auf die Zuschauer extrem intensiv. Vor allem, wenn wir die kleine Setsuko beobachten, versetzt es uns immer wieder einen Stich ins Herz. Autor Akiyuki Nosaka nutzt in seiner Erzählung indes einen weniger ruhigen Ansatz. Zwar folgt die Verfilmung inhaltlich sehr der literarischen Vorlage, doch hat Nosaka der Erzählung weit weniger Zeit zur Entfaltung geschenkt als der Anime. Das zerbombte Japan, der Abschied von der Mutter, die Tage bei der herzlosen Tante, der brutale Überlebenskampf – all das wird in der Erzählung zwar mit kraftvollen und bildreichen Worten geschildert, aber stets sehr schnell abgehandelt. Bei mir als Leserin startete auf diese Weise ein gewaltiges Kopfkino, durch die fehlende Zeit in den einzelnen Szenen konnte ich aber nie richtig in dem jeweiligen Moment „ankommen“ und es blieb oft eine gewisse Distanz zwischen den Geschehnissen im Buch und mir. Keine Frage, „Das Grab der Leuchtkäfer“ ist tragisch, gut geschrieben und durch seine Schonungslosigkeit augenöffnend. Aber in der filmischen Umsetzung ist Seitas und Setsukos Geschichte noch weit berührender, aufwühlender und beschäftigte mich nachhaltiger als die literarische Vorlage.

Was dem „Grab der Leuchtkäfer“ fehlt, ist in der zweiten Erzählung hingegen schon in zu großem Umfang vorhanden: In „Algen aus Amerika“ breitet Nosaka die einzelnen Szenen ausgiebig und kleinteilig vor dem Leser aus. Wir begleiten Protagonist Toshio, der sich durch einen Besuch aus den USA mit seinem gespaltenen Verhältnis zu besagter Nation auseinandersetzt. In Rückblicken auf die Nachkriegszeit erfahren wir, warum Toshio die Amerikaner einerseits hasst, andererseits ihnen aber auch imponieren möchte und in der Nachkriegszeit durchaus von ihnen profitierte. Auf diese Weise schlägt Akiyuki Nosaka immer wieder Brücken zwischen Toshios Vergangenheit und seinem Verhalten gegenüber den Gästen aus den USA. Vergangenheit und Gegenwart sind clever miteinander verwoben und Toshios widersprüchliche Einstellung zu Amerika fungiert exemplarisch als Portrait der amerikanisch-japanischen Beziehungen der vergangenen Jahrzehnte. Allerdings hätten hierfür durchaus weniger als 82 Seiten gereicht, denn was Nosaka den Lesern mitteilen möchte, wird ziemlich früh klar und im weiteren Verlauf der Erzählung wird das Geschilderte einfach redundant. Deutlich interessanter ist da Nosakas Spiel mit den stilistischen Mitteln: Er wechselt immer wieder die Perspektive und lässt mal Toshio selbst, mal einen auktorialen Erzähler berichten; wörtliche Rede wird hin und wieder gekennzeichnet, die meiste Zeit aber ist sie ohne Abgrenzung in den herkömmlichen Textfluss eingebunden. Das macht es nicht immer einfach, zu erkennen, wer gerade spricht und ob etwas nur gedacht oder gesagt wird, ist aber zugleich sehr interessant zu lesen.

Fazit:

Wenngleich Akiyuki Nosakas Erzählungen in meinen Augen noch ein wenig Feinschliff bedurft hätten, sind sie doch gelungene Portraits des vom Zweiten Weltkrieg geprägten Japan und die Lektüre durchaus wert – vorausgesetzt natürlich, man ergattert eines der raren Exemplare.

Akiyuki Nosaka: „Das Grab der Leuchtkäfer“, aus dem Japanischen übersetzt von Irmela Hijiya-Kirschnereit, Rowohlt 1990, ISBN: 3-498-04635-7