Liebe Hana,

seit drei Jahren reist du nun durch den deutschsprachigen Raum, um den Menschen deine Geschichte zu erzählen. Vor einem halben Jahr warst du auch zu Gast bei mir – eine Zeit, für die ich dankbar bin. Wie du siehst, brauchte ich einige Monate, um deine Geschichte sacken zu lassen und einen Versuch zu wagen, meine Gedanken in Worte zu fassen.

Hana, du wärst heute 86 Jahre alt. Doch ein langes Leben war dir nicht vergönnt. Mit nur 13 Jahren wurdest du nach Auschwitz deportiert und zusammen mit vielen weiteren Menschen vergast.

Für deinen Bruder Jiří[1], dem einzigen Überlebenden eurer Familie, war dies kaum zu ertragen, hatte er sich doch versprochen, alles dafür zu tun, damit  du überleben würdest. Dies stand allerdings nicht in seiner Macht. Aber: Auf eine besondere Art hat er dich am Leben gehalten. Indem er der Museumsleiterin Fumiko Ishioka und ihrer Schülergruppe „Die kleinen Flügel“ die Geschichte eurer Familie erzählte, machte er dich und deine Familie unsterblich. Dank ihm, den hartnäckigen Recherchen von Fumiko Ishioka und der Aufarbeitung eurer Geschichte als Buch durch Karen Levine trägst du dazu bei, dass die Vergangenheit nicht vergessen wird.

„George Brady erkannte, dass am Ende Hanas Wunsch in erfüllung [sic!] gegangen war. Sie war eine Lehrerin geworden. Ihretwegen – wegen ihres Koffers und ihrer Geschichte – lernten tausende japanische Kinder das, was nach Georges Auffassung die wichtigsten Werte der Welt waren: Toleranz, Respekt und Mitgefühl.“ (S. 139)

Hana, in eurer Heimat gab es ein beliebtes Neujahrsorakel. Bei diesem setzt jedes Kind eine halbe Walnuss, in der eine kleine, brennende Kerze steht, in eine Wanne voll Wasser. Aus dem Verhalten der Walnuss und der Kerze hattet ihr Kinder Vorhersagen für eure Zukunft abgeleitet. Jiřís Walnussboot trieb friedlich auf dem Wasser dahin, doch deines kippte und die Kerze erlosch im Wasser. Im Nachhinein betrachtet erscheint dieses eigentliche Kinderspiel wie ein Omen und wenn ich heute an dich denke, sehe ich immer diesen symbolischen Augenblick vor mir. Ihm folgen Bilder von Abschiedsszenen und kleinen Alltagsmomenten, in denen deutlich wird, dass man euch um eure Kindheit beraubte und eure kindliche Unbeschwertheit zu früh einer Ernsthaftigkeit und Besorgnis weichen musste. Vor dem geistigen Auge sehe ich dich in Theresienstadt, wo du versuchtest, aus Lieblingsliedern Kraft und Trost zu schöpfen. Und ich sehe deinen Bruder, wie er alles dafür tat, um dir jeden einzelnen Tag etwas erträglicher zu machen; wie er auf die eh schon zu kleinen Lebensmittelrationen verzichtete, damit du etwas mehr essen konntest …

Doch es sind nicht nur diese traurigen Momente, die mir in den Sinn kommen, wenn ich an dich denke. Zwar tauchen sie zuerst vor dem geistigen Auge auf, doch was sich dann schnell Bahn bricht, sind die Gedanken an euer schönes Familienleben. In eurem Elternhaus waren Künstler stets gern gesehene Gäste und eure Familie war selbst sehr kreativ: Dein Vater trat als Laienschauspieler auf und du und Jiří musizierten regelmäßig mit Klavier und Geige. Eure Eltern waren aber auch außerhalb der Künstlerszene sehr engagiert, halfen Menschen auf der Flucht und anderen Bedürftigen.

Immer wieder muss ich auch schmunzeln, wenn ich mich erinnere, dass du derart sportlich und stark warst, dass oftmals nicht einmal die älteren Jungs mit dir mithalten konnten. Liebe Hana, es sind diese positiven Erinnerungen, an die ich vor allem denken möchte, wenn ich deinen Namen lese. Ich möchte bei dem Namen „Hana Brady“ immer an Hana das lebensfrohe, liebenswerte Mädchen denken, aber auch an ihren verantwortungsbewussten Bruder Jiří, der für seine kleine Schwester alles getan hätte.

Liebe Hana, ich hoffe, dass dich und Jiří noch viele weitere Menschen kennenlernen werden und dass die Reise, die durch die Entdeckung deines Koffers angestoßen wurde, noch lange andauern wird.


Karen Levine: „Hanas Koffer“, aus dem kanadischen Englisch übersetzt von Mirjam Pressler, Ravensburger 2003, ISBN: 978-3-473-52308-5

[1] Nach Ende des Krieges wanderte Jiří nach Kanada aus und lebt seither dort unter dem Namen George Brady.