Lieber Vincent, lieber Harlan,

als Joey Goebel mich im Februar mit euch bekannt machte, war ich zunächst euphorisch. Ich war so neugierig auf eure Geschichten, auf alles, was ihr gemeinsam erlebt habt, schließlich warst du, Vincent, ein Ausnahmetalent und du, Harlan, warst nicht nur sein Manager, sondern auch sein Vormund und wurdest zum wichtigsten Menschen in seinem Leben. Doch kaum trafen unsere Welten aufeinander, hast du, Harlan, mehr als deutlich gemacht, dass die Zeit mit euch nicht leicht wird. Zunächst dachte ich noch, dass du vielleicht übertreibst, dass du einfach nur ein bisschen zu sarkastisch, zu zynisch bist. Doch nein, du meintest das ernst: „Torture the Artist“, „foltere den Künstler“, lautete der Auftrag. Du bist mit Vincent nicht sanft umgegangen und hast damit auch mich auf eine Achterbahn der Gefühle geschickt und meine Nerven auf die Probe gestellt.

Das Unternehmen „New Renaissance“ hatte sich zum Ziel gesetzt, der oberflächlichen, inhaltsleeren und anspruchslosen Mainstreamkultur qualitativ hochwertige Werke und Angebote entgegenzusetzen – von Literatur über Musik bis hin zu Film und Fernsehen. Um diese Hochkultur nachhaltig im Alltag der Menschen zu verankern, bildete New Renaissance den talentierten Nachwuchs selbst aus und hatte eigene Manager. An sich ein ehrenwertes Ziel.

Doch leider griff New Renaissance zu Methoden, die einfach nur widerwärtig und herzlos waren. Weil man der Überzeugung war, dass Schmerz, Kummer und Not die beste Inspiration für kreative Meisterwerke sind, ließ man dich, Vincent, und deine Mitschüler leiden. Momente des Glücks waren euch nie gegönnt. Dafür sorgten New Renaissance und Manager wie Harlan. Oh, Harlan, wie konntest du Vincent nur über so viele Jahre hinweg in immer neue Krisen stürzen? Zugegeben, mit manchen deiner Aktionen hast du Vincent ironischerweise sogar vor schlimmerem Leid bewahrt, indem du das Unausweichliche vorgezogen hast. Doch deine Absichten dahinter waren durchweg mies und bei manchen Aktionen legtest du eine Grausamkeit an den Tag, bei der mir übel wurde. Als Schlagwort werfe ich hier nur „Wynona“ in den Raum. Wie kaltherzig muss man sein, um so etwas durchzuziehen? Ereignisse wie diese zerrissen mir fast das Herz, ich wollte mich einmischen oder wenigsten Vincent in den Arm nehmen und für ihn da sein in diesen dunklen Tagen Jahren. Harlan, immer wieder wollte ich an das Gute in dir glauben, hoffte darauf, dass du dich von den miesen Machenschaften von New Renaissance abwendest – und gleichzeitig fürchtete ich das Schlimmste. Es war eine verdammt intensive, emotionale Zeit, die ihr mir bereitet habt. Ich habe getrauert, war wütend, habe geflucht und gehasst.

Harlan, als du den Job als Vincents Manager annahmst, warst du jünger, als ich es jetzt bin – und trotzdem warst du schon derart verbittert und hegtest einen solchen Groll gegen die Menschen, vor allem gegen Frauen. Woher kamen dieser Zorn und diese Abscheu? Von ein paar Rückschlägen in deinem Leben, vorwiegend deiner gescheiterten Musikkarriere, hattest du mir erzählt. Doch bis heute kaufe ich dir nicht ab, dass deine negative Weltsicht allein daher rührt. Ich wünschte, du hättest dich hin und wieder etwas mehr geöffnet, sowohl mir als auch Vincent gegenüber … Aber Harlan, trotz allem, was du Vincent angetan hast und trotz deiner Anti-Alles-Haltung hege ich keinen Groll gegen dich. Ich finde das, was du getan hast, unentschuldbar, doch du hast eine Art an dir, die es mir schwer macht, dir keine neue Chance zu geben. Vielleicht ist es auch nur das Mitleid, das aus mir spricht – Mitleid mit dir, weil dein Leben, genau wie das von Vincent, nicht von Glück begleitet war und du nie etwas genießen oder auskosten konntest.

Vincent, du hast mich wirklich erstaunt. Immer wieder fragte ich mich, wie du all das aushalten konntest, wie du immer wieder neue Kraft fandest – und ich bewundere dich dafür! Wie viele wären an all dem zerbrochen, was du erleben musstest? Schließlich war da nicht nur das durch New Renaissance verursachte Leid, sondern auch die katastrophale Situation zu Hause (oder das, was man für gewöhnlich als „Zuhause“ bezeichnen würde). Du hast eine Stärke bewiesen, von der ich nicht weiß, woher du sie bezogen hast. Doch du warst schon als Kind außergewöhnlich: Du hattest eine Ruhe, Weisheit und Tiefsinnigkeit, die für dein Alter und dein soziales Umfeld alles andere als normal sind.

Vincent und Harlan, ihr beide verdient es, nach all dem Tragischen, nach all den Verlusten und Schmerzen, wenigstens ein Quäntchen Glück zu erfahren und das Leben mit all seinen kleinen und großen Wundern zu genießen. Ich wünsche euch alles Gute!

Und trotz all des Kummers, den ihr mir bereitet habt, bin ich euch und Joey Goebel dankbar für die gemeinsame Zeit. Ihr habt daran erinnert, dass man Liebe, Freundschaft und Glück niemals als etwas Selbstverständliches ansehen sollte, ihr habt aufgezeigt, wie schnell jemand aufsteigen und fallen kann, und nicht zuletzt habt ihr mehr als deutlich gemacht, was in der Welt der Medien und Künste alles schief läuft. Ich danke euch dafür und hoffe, dass noch viele weitere Menschen eure Geschichte erfahren werden!

Eure Kathrin


Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Diogenes Buchclub. Der Diogenes Buchclub (#dbc) ist eine Aktion von Jules Leseecke. Weitere Eindrücke zum Buch findet ihr bei Studierenichtdeinleben, BuchbuntSeitengeflüster und Jules Leseecke. Wer Spoiler nicht scheut (oder das Buch bereits kennt), der kann unsere intensive Leserunde auch auf Lovelybooks nachlesen.

Joey Goebel: „Vincent“, aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog und Matthias Jendis, Diogenes 2007, ISBN: 978-3-257-23647-7