Bevor im Zuge der Leipziger Buchmesse wieder ein Berg an Bücherschätzen bei uns einzieht, möchte ich dieses Wochenende nutzen, um zwischen die Buchdeckel abzutauchen und ältere Titel aus dem SUB zu entdecken. Passenderweise lädt das stürmische, kalte Regenwetter sowieso zu nichts anderem als zur Lesesessel-Gemütlichkeit ein.

Heute reise ich daher ins Jahr 1923, wo ich Hattie Shepherd treffen werde. Das 15-jährige Mädchen steckt voller Träume und Hoffnungen, doch das Leben hat andere Pläne mir ihr: Sie endet in einer enttäuschenden Ehe, bringt elf Kinder zur Welt und muss so manchen Kummer durchstehen. Auf den Pfaden dieser zwölf Leben – Hatties und das ihrer Kind – werde ich heute wandeln und ich bin gespannt darauf, Hattie zu begegnen, sie als Mädchen und später als Mutter kennzulernen und zu erfahren, wie sie mit all dem, was das Leben für sie bereithält, umgeht. Und natürlich bin ich neugierig, ob es für Hattie doch noch Glück und Erfüllung geben wird.

Update 1 - Samstag, 12.45 Uhr

Vier Leben auf weniger als 50 Seiten … Vier Leben, die mir gezeigt haben, dass „The Twelve Tribes of Hattie“ trotz seines geringen Umfangs von knapp 300 Seiten kein Buch ist, das sich schnell lesen lässt. Vermutlich werde ich daher wohl nicht nur heute, sondern das ganze Wochenende Hatties Familie begleiten.

Hattie selbst zieht im Alter von 15 Jahren mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern von Georgia ins vielversprechende Philadelphia. Nachdem Hatties Vater von Rassisten ermordet worden ist, erhoffen sich die Hinterbliebenen ein Leben in Sicherheit im Norden der USA. In Philadelphia, so sagt man ihnen, würden Schwarze ein besseres, freieres Leben führen als in den Südstaaten. Kaum in Philadelphia eingetroffen, erscheint Hattie die Stadt wie der Himmel auf Erden: Schwarze Teenager, die sich ausgelassen auf der Straße unterhalten und lachen; eine afroamerikanische Frau, die bei einem Weißen Blumen kauft, ohne dabei wie ein Mensch zweiter Klassse behandelt zu werden. Nie mehr will Hattie zurück nach Georgia, das ist ihr auf Anhieb klar.

Als Hattie ein Jahr später verheiratet und mit Zwillingen schwanger ist, möchte sie die in Philadelphia erwachte Hoffnung an ihre Kinder weitergeben: Sie nennt ihre Zwillinge Philadelphia und Jubilee. Doch die vielversprechenden Namen bringen kein Glück mit sich – nur ein Jahr später sterben beide Kinder an einer Lungenentzündung.

Im Schatten dieses Schicksalsschlages stehen Hatties kommende Jahre. Zwar wird sie bald darauf erneut Mutter, doch der Verlust der Zwillinge hat tiefe Narben hinterlassen: Hattie schläft den halben Tag und in den Stunden, in denen sie wach ist, kümmert sie sich nur spärlich um ihre Kinder. Dennoch wird sie für Sohn Floyd zum wichtigsten und liebsten Menschen in seinem Leben. Er trägt ihr nichts nach; wenn er sich an sie und ihr gemeinsames Zuhause erinnert, dann tut er dies in Liebe und Dankbarkeit.

Wie das Schicksal es so will, verschlägt es Floyd 1948 nach Georgia, die Heimat seiner Mutter. Hier muss sich Floyd, der als Musiker durchs Land zieht, erstmals seit seiner Jugend seinen Gefühlen und seiner Bisexualität stellen. Doch im Georgia der ’40er schlägt Homo- und Bisexuellen der gleiche Hass entgegen wie 20 Jahre zuvor Floyds Vorfahren aufgrund ihrer Hautfarbe.

Rassismus, Diskriminierung auf Grund der Sexualität, Kindstot … es sind keine leichten Themen, die Ayana Mathis in ihrem Debütroman verarbeitet. So viele Problematiken und Schicksale in einem recht kurzen Buch aufzugreifen, ja, bereits auf den ersten 50 Seiten einzubinden, birgt immer ein Risiko: Das „Mehr“ an Themen kann leicht als „zu viel“ und zu gewollt erscheinen oder zu halbherzig aufgearbeitet sein. Doch Ayana Mathis ist es gelungen, weder mit dieser Vielfalt zu „erschlagen“, noch die Themen zu oberflächlich anzugehen. Sie schreibt präzise, schildert detailliert, aber trotzdem pointiert. Dabei geht sie weniger handlungsorientiert vor, sondern rückt viel mehr das Innenleben der Charaktere in den Fokus. Das gezielte Einflechten von Farben und Gerüchen sorgt dabei für Lebendigkeit und Atmosphäre. Es ist, als würde Ayana Mathis … Erinnerung schreiben: Kennt ihr das, wenn ihr etwas riecht oder schmeckt, ihr ein bestimmtes Lied oder eine Redewendung hört und plötzlich Erinnerungen aus eurer Kindheit glasklar vor eurem inneren Auge auftauchen? So ähnlich liest sich für mich bisher „The Twelve Tribes of Hattie“.

Update 2 - Samstag, 19.15 Uhr

Fast zwei Drittel des Romans liegen hinter mir. Seit heute Mittag habe ich die Leben von Hatties Sohn Six und ihren Töchtern Ruthie und Ella begleitet. Während ersterer ein riesiges Bündel an eigenen Sorgen, Zweifeln und Problemen mit sich herumträgt, wird durch die Geburten von Ruthie und Ella die gesamte Familie gleich zweimal auf die Probe gestellt.

Die Einblicke, die Ayana Mathis mir als Leserin dabei gewährt, könnten unterschiedlicher kaum sein. Die Kapitel, in denen die älteren Kinder Hatties im Mittelpunkt stehen, lesen sich relativ eigenständig und losgelöst von Hatties Vergangenheit, sodass der Roman stellenweise fast an eine Anthologie erinnert. Erst in den späteren Jahren, als Ruthie und Ella in Hatties Leben treten, werden die Fäden enger geknüpft und Hatties Vergangenheit stärker mit der Gegenwart und den individuellen Schicksalen der Kinder verwoben. Dabei entfaltet sich ein vielschichtiges, schmerzvolles Portrait der Familie, insbesondere der Ehe Hatties mit August – einer Ehe, die einst aus Notwendigkeit entstand und aus der sich Hattie und August im Alltag jeweils auf ihre eigene Weise zu flüchten versuchen. Ihre Ehe ist geprägt von Lügen, Betrug, Beleidigungen, Vorwürfen und vor allem voller ungesagter Dinge. In schweren Zeiten leidet jeder von beiden für sich allein, gibt sich nach außen kühl und weist den anderen zurück. So drehen sich Hattie und August mit ihren Problemen im Kreis, nicht in der Lage, sich selbst oder dem anderen daraus zu befreien. Jeder nimmt nur das äußerlich Sichtbare des jeweils anderen wahr, keiner von beiden versucht je, sich in den anderen hineinzuversetzen; keiner spendet dem anderen je Trost oder versucht, ein Lächeln auf die Lippen des Partners zu zaubern, nie sind sie bisher füreinander da gewesen – in einem jahzehntelangen Kampf, den sie nur gemeinsam bestreiten können, agieren sie als Gegner statt als Verbündete. Als Leserin möchte ich hier gerne einschreiten, für beide da  sein – und ich frage mich zugleich, wie diese lieblose Ehe letztlich auf die Kinder eingewirkt hat.

Update 3 - Sonntag, 9.00 Uhr

Gestern Abend habe ich noch Zeit mit Alice und Billups verbracht. Das Geschwisterpaar steht sich sehr nahe, hat vermutlich die engste Bindung unter allen Geschwistern der Familie. Doch diese enge Bindung fußt auf einer Art gegenseitiger Abhängigkeit und einem schrecklichen Geheimnis, das nur sie beide kennen. Gerne würde ich mehr darüber schreiben, auch dazu, was mich bei diesem Buchabschnitt besonders beschäftigt hat. Aus Spoilerschutzgründen muss ich jedoch darauf verzichten.

Mit Alice und Billups habe ich nun acht Kinder Hatties kennengelernt. Vor mir liegen noch ca. 100 Seiten und die Leben dreier Kinder: Franklin, Bell und Cassie. Die Hoffnung, dass eines von ihnen mit einem weniger dramatischen Schicksal zu kämpfen hat, habe ich mittlerweile aufgegeben. Oft schien es, als wäre das Höchstmaß dessen erreicht, was eine Familie ertragen kann, ohne gänzlich daran zu zerbrechen. Doch Ayana Mathis holt stets zu einem erneuten Schlag aus – und keiner davon fällt milder als der vorherige aus. Es schmerzt, zu sehen, was diese Familie alles aushalten muss. Doch es wirkt nie unglaubwürdig, denn die meisten Schicksalsschläge sind direkt oder indirekt eine Folge gesellschaftlichen Versagens: ein nicht vorhandenes soziales Netz, das gering verdienende Familien oder Alleinerziehende auffangen könnte; Diskriminierung; Mobbing; Klassendenken … Am Beispiel dieser großen Familie macht Ayana Mathis also auf ganz subtile Art deutlich, was im menschlichen Miteinander alles schief läuft und wie viel Leid Menschen erspart bliebe, wenn sie einander mit Respekt, Toleranz, Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft begegnen würden.

Update 4 - Sonntag, 13.55 Uhr

Vor etwa einer halben Stunde habe ich „The Twelve Tribes of Hattie“ beendet. Nachdem ich auf den letzten 100 Seiten Hatties inzwischen erwachsene Kinder Franklin, Bell und Cassie sowie Enkelin Sala näher kennenlernte, habe ich immer wieder überlegt, was ich hier darüber schreiben könnte. Doch ich vermag es nicht, zu diesen letzten 100 Seiten mehr zu erzählen. Zum einen aus Spoilerschutz und zum anderen weil Ayana Mathis es nach all Schicksalsschlägen und Krisen der vorangegangenen 200 Seiten trotzdem immer wieder geschafft hat, mich zu überraschen und mich mit den Charakteren leiden zu lassen – selbst dann, wenn ich für sie kaum Sympathie empfand. Daher möchte ich euch an dieser Stelle einfach nur die Lektüre ans Herz legen und den Roman außerhalb des WWW weiter auf mich nachwirken lassen.

Fazit

Dass Ayana Mathis mit „The Twelve Tribes of Hattie“ meinen Lesegeschmack trifft, hatte ich geahnt. Doch Ayana Mathis hat viel mehr geschafft, als meine Erwartungen zu erfüllen: Sie hat mich überrascht – und zwar mehrfach. „The Twelve Tribes of Hattie“ ist unglaublich intensiv, clever und atmosphärisch erzählt und weist eine Vielschichtigkeit und Tiefe auf, die ich in dieser Form bei einem gerade einmal 300 Seiten umfassenden Buch nicht vermutet hätte. Ein außergewöhnliches Portrait nicht nur einer Familie, sondern einer ganzen Gesellschaft!