Gestern berichtete ich euch von meinen Erfahrungen mit dem Buch-Abo von The Willoughby Book Club. Heute nun möchte ich mich einem der drei Überraschungstitel näher widmen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Edward Morgan Forsters „A Room with a View“ bei einem Stöbern in einer Buchhandlung nähere Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Das Cover von Chris Silas Neal hätte zwar definitiv meine Aufmerksamkeit geweckt, aber Geschichten um Frauen, die sich Hals über Kopf verlieben und in den Konflikt geraten, auf ihr Herz zu hören oder Konventionen und Verpflichtungen zu folgen, lassen mich nicht gerade begeistert zur Kasse rennen und in die Seiten abtauchen. Doch da The Willoughby Book Club mit den anderen beiden Lieferungen gänzlich meinen Geschmack traf, vertraue ich dem fachkundigen Urteil des Teams auch im Fall von „A Room with a View“ und bin neugierig, wie mir Forsters Gesellschaftskomödie gefallen wird. Über meine Reise nach Florenz mit Protagonistin Lucy Honeychurch halte ich euch heute an dieser Stelle auf dem Laufenden.

Update 1 - 9.45 Uhr

Soeben habe ich das erste Kapitel beendet und mich bereits auf diesen ersten zwölf Seiten köstlich amüsiert!

Lucy und ihre Cousine Charlotte sind just in Florenz eingetroffen und regen sich prompt über unnützes Zeug auf, zum Beispiel den Cockney-Akzent ihrer Gastgeberin. Großes Drama entsteht aber um die Zimmer der beiden Damen, denn statt der versprochenen Südzimmer mit Blick auf den Arno sind sie in Nordzimmern mit Blick auf  den Hof untergebracht worden. Katastrophal!

Auf den folgenden Seiten entspannt Autor E. M. Forster ein herrliches Portrait über die englische Upper Middle Class mit ihren Oberflächlichkeiten, Eitelkeiten, ihrer aufgesetzten Freundlichkeit und eigenartigen Etikette. So sorgt es für Aufruhr, als ihr Tischnachbar Emerson, der mit seinem Sohn George in Südzimmern untergebracht ist, einen Zimmertausch vorschlägt. Dass jemand einfach so aus reiner, aufrichtiger Höflichkeit einen solchen Vorschlag unterbreitet und das, was er sagt, auch genauso meint, kommt Charlotte und anderen Vertretern ihres sozialen Kreises nicht in dem Sinn – nein, stattdessen ist sie felsenfest davon überzeugt, dass Mr Emerson irgendwelche Hintergedanken hat und die beiden Cousinen bei einem Zimmertausch irgendwelche Verpflichtungen gegenüber Emerson und seinem Sohn George eingehen. Diese Absurditäten zu verfolgen, ist göttlich und wenn der Rest des Romans sich in einer ähnlichen Weise fortsetzt, wird der heutige Sonntag grandios!

„‚ […] It is so difficult – at least I find it difficult – to understand people who speak the truth.'“ (S. 7)

Update 2 - 13.20 Uhr

Puh, die „bessere Gesellschaft“ ist ganz schön anstrengend. Alles ist so schrecklich aufgesetzt, jeder so überheblich. Es wird getratscht ohne Ende, jeder hält sich für etwas Besseres und wer auch nur einen kleinen Tick anders ist oder anders denkt, wird müde belächelt. … Und in diesem Umfeld ist unsere Protagonistin Lucy groß geworden. Diese künstliche, oberflächliche Welt hat sie geprägt, doch tief in Lucys  Inneren gibt es etwas, das sich nach etwas anderem sehnt, das nach mehr strebt.

„Conversation was tedious; she wanted something big […]. This she might not attempt. It was unladylike. Why? Why were most big things unladylike? Charlotte had once explained to her why. It was not that ladies were inferior to men; it was that they were different. Their mission was to inspire others to achievement rather than to achieve themselves.“ (S. 38)

Dieser nach Bedeutung und Freiheit strebende Teil von Lucy bricht sich nun in Italien, wo Genuss und Sinnlichkeit das Leben prägen, in kleinen Schritten immer mehr Bahn.

„‚One doesn’t come to Italy for niceness,‘ […] ‚one comes for life. […]'“ (S. 15)

Zwischen dem vordefinierten Leben in der konventionellen englischen Gesellschaft und dem von Gefühl und Träumen geleiteten individuellen Weg ist Lucy zunehmend hin- und hergerissen – und ist sich dabei selbst oft gar nicht ihrer innerlichen Veränderung und ihres seelischen Dilemmas bewusst. Aufgewachsen in einer Welt, in der ihr alles vordiktiert wurde – einschließlich der Meinungen, die sie haben soll – ist Lucy ein ums andere Mal überfordert. So sucht sie nach Rat, ob Mr Emerson und sein Sohn Menschen sind, die sie sympathisch finden soll. Denn obwohl sie sich selbst nicht unwohl in deren Anwesenheit fühlt und den Austausch mit beiden sogar fast genießt, sind Mr Emerson und Sohn George doch zu „anders“. Als George Lucy bei einem Gruppenausflug küsst, sorgt das daher nicht nur in Lucys Gefühlsleben für ordentlich Tumult.

Update 3 - 14.50 Uhr

Die Handlung spitzt sich nun – in der Mitte des Buches – immer mehr zu. Wir haben einen kleinen Zeitsprung gemacht: Lucy ist seit Kurzem zurück aus Italien und hat sich soeben mit Cecil Vyse verlobt – einer idealen Partie, so die Ansicht der Mutter („er ist reich; er hat gute Verbindungen“). Ich selbst weiß bislang nicht, was ich von Cecil halten soll. Bei den ersten Begegnungen mit ihm finde ich ihn unerträglich – Lucys Umwelt ist ihm eigentlich zuwider und er lästert eifrig über alles und jeden und er sieht keinerlei Sinn darin, warum er arbeiten sollte. Im weiteren Verlauf der Handlung vertritt er dann aber die ein oder andere Meinung, die ich mit ihm teile, z. B. dass Verlobungen etwas Privates, Intimes sind und nichts, was andere Leute angeht oder zur Schau gestellt werden muss. Später bekomme ich sogar ein wenig Mitleid mit Cecil, denn ihm wird bewusst, dass er für Lucy metaphorisch gesehen ein Zimmer ohne Aussicht ist, was diese zugibt, ohne dass sie sich der traurigen Bedeutung dieses Bildes ist.

„‚Do you know that you´re right? […] When I think of you it´s always as in a room. How funny!‘
To her surprise, he seemed annoyed.
‚A drawing-room, pray? With no view?‘
‚Yes, with no view, I fancy. Why not?‘
‚I´d rather,‘ he said reproachfully, ‚that you connected me with the open air.'“ (S. 103)

Auf den folgenden Seiten wird immer deutlicher, dass die Beziehung von Cecil und Lucy nichts mit Liebe und Leidenschaft zu tun hat – sie sind verlobt, haben sich aber nie geküsst und als es zu dieser ersten, kleinen körperlichen Intiminität kommt, erinnert sich Lucy plötzlich an die Italienreise und den netten Mr Emerson …

Dass ihre Beziehung mit Cecil zum Scheitern verurteilt ist, ist klar – doch die Frage ist, ob die beiden Verlobten sich dieser Wahrheit offen stellen oder sich trotzdem blind in eine gemeinsame Ehe stürzen. Ich bin gespannt …

Update 4 - 19.15 Uhr

Vor ca. einer Stunde beendete ich die Lektüre von „A Room with a View“ und habe einen ziemlich differenzierten Blick auf den Roman. Einerseits war mir manche Szene zu sehr in die Länge gezogen und ich hätte mir ein wenig inhaltliche Straffung oder Bündelung gewünscht. Andererseits bin ich positiv überrascht über die Vielschichtigkeit und die Fortschrittlichkeit des Romans: Zog die Geschichte anfangs mit einer herrlichen Verspottung der „besseren Gesellschaftskreise“ in den Bann, verwandelte sie sich zunehmend in eine Mischung aus Liebesgeschichte und Entwicklungsroman, enthielt Dramatik, ernstere Gesellschaftskritik und eine für damalige Verhältnisse recht progressive Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau und der Gleichberechtigung der Geschlechter. So kommt es schließlich auch, dass Lucys Liebesprobleme und menschliche Sehnsüchte mit Fragen nach Rollenbildern und der Identität als Frau verknüpft werden. Diese Stellen fand ich unglaublich interessant zu lesen und E. M. Forster hätte hier gerne eine noch intensivere Auseinandersetzung einbinden können. Vor diesem Hintergrund war ich dann auch ein klein wenig über das Ende enttäuscht (um Spoiler zu vermeiden, werde ich an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, was mich konkret gestört hat). Doch diese kleine Enttäuschung schmälert nicht den insgesamt guten Gesamteindruck, den die Lektüre bei mir hinterlassen hat.

Fazit

Edward Morgan Forster hat mich mit der Vielseitigkeit von „A Room with a View“ und der darin vorkommenden Hinterfragung der Rolle der Frau mehr als nur positiv überrascht. Zwar hätte ich mir an ein paar Stellen ein wenig inhaltliche Straffung gewünscht und das Ende hätte für meinen persönlichen Geschmack anders ausfallen können, doch habe ich die Zeit mit Lucy Honeychurch sehr genossen. „A Room with a View“ wird daher garantiert nicht mein einziger und letzter Roman Forsters bleiben.