Es ist nun schon einen Monat her, seit ich den ersten Teil von Tolstois drittem Roman „Auferstehung“ hinter mir ließ und es ist Zeit, euch von dieser Rückkehr nach Russland zu berichten – und die Reise fortzusetzen.

Bereits die erste Seite ist so typisch Tolstoi, denn wie kaum ein anderer Autor schafft er es, das Menschsein mit all seinen guten, aber auch schlechten Facetten, des Menschen Verhältnis zur Natur und die Rolle des Einzelnen im großen Kosmos in nur wenigen Worten zu verdichten und veranschaulichen.

Wie man es nicht anders von ihm kennt, entfaltet Tolstoi ein mahnendes Portrait der Gesellschaft, hält uns allen den Spiegel vor ob der Absurditäten, die wir Menschen regelmäßig an den Tag legen. Tat er dies in „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ überwiegend aus der Perspektive der russischen Oberschicht, rücken in „Auferstehung“ die Gesellschaftsschichten stärker in den Fokus, die nicht in reiche Familienstammbäume hineingeboren worden oder in diese einheirateten. Wir begleiten die Waise Jekaterina Maslowa, wie ihr zunächst gut behütetes Leben Stück für Stück ruiniert wird, wie aus dem romantischen, unschuldigen Mädchen eine gebeutelte, verbitterte Frau wird, die schließlich des Diebstahls und Mordes bezichtigt im Gefängnis landet.

Als „die Maslowa“, wie sie fast ausnahmslos im Roman genannt wird, auf der Anklagebank sitzt, ist unter den Schöffen niemand geringerer als der wohlhabende Dmitri Nechljudow. Nechljudow – einst ein wissbegieriger und gutherziger Träumer, aber als junger Mann vom Militärdienst und falschen Oberschichtenkreisen negativ geprägt – verbrachte vor einigen Jahren die Nacht mit der Maslowa. Während es für ihn bedeutungsloser Sex zur reinen Befriedigung seiner Bedürfnisse war, legte er mit dieser Nacht den Grundstein für den rasanten (Ver-)Fall der Jekaterina Maslowa.

Nun, da Nechljudow sieht, wohin das Leben die Maslowa geführt hat, wird er von seinem schlechten Gewissen eingeholt und sucht nach Wegen der Wiedergutmachung. Dabei bleibt es nicht nur beim Schicksal der Maslowa und schon bald ist Nechljudow in die Leben vieler weiterer Inhaftierter verstrickt, zu deren Hilfe er sich nun verpflichtet fühlt.

So entführt uns Tolstoi immer tiefer in die Widerlichkeiten der Gefängnisse und die Abgründe der Justiz.

Doch Tolstoi wäre nicht Tolstoi, wenn er es nur bei den handlungsleitenden Themen beließe und so lässt er uns exemplarisch an seinen Charakteren wieder über die unterschiedlichsten Themen sinnieren – manchmal auch mit einem Augenzwinkern.

„Generell verdirbt der Militärdienst die Menschen, […] weil er sie befreit von den gemeinmenschlichen Pflichten und an deren Stelle nichts als die konventionelle Ehre des Regiments, der Uniform und der Fahne setzt und einerseits grenzenlose Macht über andere Menschen verleiht, andererseits sklavischen Gehorsam fordert gegen die vorgesetzte Obrigkeit.“ (S. 76)

Zwischendrin streut Tolstoi die ein oder andere Prise Symbolismus ein – auffällig oft kombiniert er dabei die Nationalfarben Russlands mit der Kleidung der Maslowa.

Auch die ein oder andere Literaturempfehlung hat mein russischer Lieblingsautor in die Geschichte eingeflochten.

Kurzum: Wir haben hier wieder einen typischen Tolstoi-Roman prall gefüllt mit allem, was in irgendeiner Form das Leben eines Individuums und/ oder gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich prägt. Paradoxerweise ist „Auferstehung“ gleichzeitig aber auch kein typischer Tolstoi-Roman, denn während Tolstois große Werke „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ die Leben einer Vielzahl von Charakteren verfolgen, konzentriert sich Tolstoi in „Auferstehung“ vorrangig auf die Maslowa und Nechljudow. Ich bin gespannt, ob dies so bleibt oder sich Nechljudow noch derart in den Schicksalen anderer Häftlinge verstrickt, dass wir als Leser uns am Ende doch wieder in einer großen Gruppe wiederfinden.