[Achtung: Spoilergefahr! Wenn ihr weder das Buch noch eine der Verfilmungen kennt und es euch die Neugier verdirbt, wichtige Handlungsverläufe vorab zu erfahren, lest bitte nicht weiter. Wen es nicht stört, wesentliche Details verraten zu bekommen, der ist hingegen herzlich zur Lektüre des Artikels eingeladen. ]

Fast zwei Monate nach Miss Booleana bin auch ich zurück aus dem Orwellschen 1984 und im letzten Drittel haben wir noch einmal die volle Dröhnung Gehirnwäsche erfahren.

Kopfschüttelnd hören wir mit an, wie stolz die Bevölkerung unter Big Brother ist, wenn ihre Verbrechen durch nahe stehende Personen an die Gedankenpolizei verraten werden, da es doch nur beweist, dass sie von sehr wohlerzogenen Bürgern umgeben sind.

Diejenigen, die ganz oben auf der Karriereleiter stehen, werden indes gleich völlig größenwahnsinnig ob ihrer Macht über die Menschheit. Wenn Big Brother sagt, dass 2 plus 2 5 ergibt oder dass sich die Sonne um die Erde dreht, dann ist das so.

Wer das nicht verinnerlicht und Big Brother nicht abgöttisch liebt, der wird wie Winston und Julia eingesperrt und gefoltert – bis er resigniert, bis er aus Selbstschutz alles sagt, was Big Brother hören will und dies so oft runterbetet, bis er schließlich selbst daran glaubt. Lerne, deine Lieben und die Freiheit zu hassen, um dein Leben zu retten; lerne den Big Brother dafür lieben, dass er dich trotz deines Verrates am Leben lässt – Big Brother ist dein Erlöser, wenn du für deine Sünden bestraft wirst. Dein einstiger Feind wird dein einziger Freund. „Liebe ist Hass“ lautet einer der Parteislogans: Hass eint und das nutzt Big Brother schamlos aus, um dich zu seinem treuen Schoßhündchen zu machen.

 

Erstaunlicherweise haben mich diese wiederholten Demonstrationen der Macht der Manipulation und der Leidenschaft für eine hasserfüllte Welt im letzten Drittel wieder genauso wütend und kopfschüttelnd zurückgelassen, wie der erste Teil des Romans. Die Folter selbst hat mich dagegen weniger schockiert – damit war zu rechnen und bei einem so ausgeklügelten System wie es in 1984 vorherrscht, hätte ich bei der Folter sogar mehr Raffinesse erwartet. Für die Welt von Big Brother war mir die Folter nicht subtil genug – natürlich ist sie grausam, aber eben so stupide gewöhnlich, dass sie eigentlich unter dem Niveau der sonst so taktischen Regime-Methoden liegt. Daher war ich auch ein wenig von Raum 101 enttäuscht, um den so lange ein Mysterium gemacht wurde und der dann eine Foltermethode offenbarte, die so effektiv und gleichzeitig simpel ist, dass sie einerseits zwar genial ist, andererseits aber auch zu einfach. Bei Raum 101 fand ich daher weniger die Foltermethode schockierend als vielmehr die damit einhergehende Erkenntnis, wie wenig die Menschen in 1984 tatsächlich den Verlust von Familie oder vermeintlich geliebten Personen fürchten. Und das sagt verdammt viel darüber aus, wie kalt und traurig die Welt im Jahr 1984 tatsächlich ist …

Fazit:

George Orwell zeigt in „Nineteen Eighty-Four“ eine grauenvolle Welt auf, die alles andere als unrealistisch ist – im Gegenteil: Momentan ist das darin geschilderte Szenario so greifbar wie nie. Parteien nutzen heute wieder verstärkt Ängste und Hass, um Wähler und Macht zu gewinnen und die Welt so Stück für Stück hässlicher zu machen. Wie der Big Brother verkaufen sie es damit, dass sie den Bürgern angeblich nur so ein sicheres, sorgenfreies Leben ermöglichen können. Sie nutzen die gleichen Parolen und Pseudo-Argumente wie in Orwells dystopischem Jahr 1984 – und viele Menschen fallen noch genauso leicht darauf rein! Die nächste unheimliche Wahrheit liegt in der im Roman geschilderten Dauerkontrolle der Menschen, der sich in der heutigen Realität viele in Blindheit und Naivität freiwillig unterziehen, indem sie 24/7 Biorhythmus und Geodaten tracken lassen, unzähligen Apps Zugriffsberechtigungen auf private Daten geben und ihr Zuhause oder ihren PKW aus Bequemlichkeit bis ins Detail vernetzen. Dass ein Roman, der ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat, stärkere Parallelen zu unserer jetzigen Lebenswelt hat als damals zu seiner Entstehungszeit, DAS ist das wahrlich Erschreckende und Furchteinflößende bei der Lektüre! Die Story um Winston und Julia hat mich persönlich indes weniger in den Bann gezogen und war mir vor dem Hintergrund dieser hasserfüllten und dauerkontrollierten Welt zu schwach ausgearbeitet – auf dramaturgischer Ebene konnte mich „Nineteen Eighty-Four“ daher nicht so überzeugen wie das ebenfalls aus Orwells Feder stammende „Animal Farm“. Dennoch ist „Nineteen Eighty-Four“ zu Recht ein Klassiker geworden und sollte heute dringender denn je von jedem gelesen werden!


George Orwell: "Nineteen Eighty-Four", Penguin Books 2013 (Great Orwell Collection), ISBN: 978-0-141-39304-9

George Orwell: „Nineteen Eighty-Four“, Penguin Books 2013 (Great Orwell Collection), ISBN: 978-0-141-39304-9

Alle Beiträge zum gemeinsamen Lesen von „Nineteen Eighty-Four“:

♦ Ankündigung auf Phantásienreisen:
#WinstonsDiary – Läsglädje, Miss Booleana & Phantásienreisen lesen „1984“

♦ Erster Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „1984“ #WinstonsDiary (I)

♦ Erster Zwischenbericht auf Phantásienreisen: #WinstonsDiary – Teil I: Willkommen im nicht lebenswerten Leben!

♦ Zweiter Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „1984“ #WinstonsDiary (II)

♦ Zweiter Zwischenbericht auf Phantásienreisen: #WinstonsDiary – Teil II: Innere und sexuelle Rebellion

♦ Rezension des gesamten Romans bei Miss Booleana: ausgelesen: George Orwell „1984“ (engl. Ausgabe)

♦ Vergleich zwischen Buch und Verfilmungen bei Miss Booleana: Vergleich zwischen Buch und Film: Orwells „1984“ vs. „Nineteen Eighty-Four“ (1956) vs. „1984“ (1984)

Alle Live-Eindrücke könnt ihr auf Twitter unter dem Hashtag #WinstonsDiary nachlesen.