Im Laufe des letzten Jahres habe ich wenig Fantasy gelesen – und noch weniger auf dem Blog thematisiert. Das liegt nicht daran, dass mich das Genre weniger interessiert als früher. Keineswegs! Doch immer, wenn ich in den vergangenen Monaten in den Fantasy-Abteilungen der Buchhandlungen und den Programmen der großen Verlage stöberte, hatte ich das Gefühl, alles schon gesehen und gelesen zu haben: Die Cover hatten eine fast schon deckungsgleiche Ähnlichkeit; die Titel und Klappentexte lasen sich gleich und wirkten beliebig austauschbar. Umso neugieriger machte mich daher Autor Stephan Lethaus mit seinem Serienauftakt „Das magische Erbe der Ryūjin“. Das grüne Cover mit dem Wappen der magischen Welt Skaiyles ist eine wunderbar ausgewogene Kombination aus Schlichtheit und feinen Details – und hebt sich durch den Verzicht auf Waffen oder fantastische Wesen stark von aktuellen Covertrends ab. Auch die Inhaltsangabe versprach ein spannendes Leseerlebnis: Einerseits finden sich klassische Fantasyelemente wie Drachen und das Thema der Heldenreise wieder, andererseits treffen eine mittelalterliche, fantastische Welt und die hochtechnologisierte Zukunft „unserer“ Welt aufeinander. Das alles wird erzählt mit einer guten Prise Humor, wie bereits der erste Satz des Klappentextes suggerierte: „Hast Du schon einmal versucht, mit einem Drachen ernsthaft über den Sinn des Tötens zu diskutieren?“

All das klang nach einer erfrischenden Abwechslung im Vergleich zu den aktuellen „Cash Cow“-Fantasytrends.

Und ich wurde nicht enttäuscht!

Stephan Lethaus‘ Romandebüt „Das magische Erbe der Ryūjin“ startet bereits rasant und spannungsgeladen in die Handlung, es gibt kein ewiges Vorgeplänkel und von der ersten Seite an sind Magie und Bedrohung sprübar. Wir treffen auf Zlas, die Nichte des Kaisers Theobaldus, die – zusammen mit ihrem Baby – vor dem skrupellosen Magier Mortemani fliehen muss. Lange kann sie sich vor dem mächtigen Mortemani jedoch nicht verstecken, schafft es aber zumindest ihren kleinen Sohn als Findelkind vor einer Burg auszusetzen und ihm so das Leben zu retten. In diesem kurzen, fast schon cineastisch-erzählten Auftakt schafft es Autor Stephan Lethaus sofort, eine tiefe Verbindung zu Zlas herzustellen. Obwohl wir nur wenig über die Nichte des Kaisers erfahren, können wir uns durch ihre Handlungen, Denkweisen und Aussagen ein sehr präzises Bild von ihr machen und erfahren – ganz ohne trockene Fakten – wie Zlas wirklich ist. Dadurch fällt es ausgesprochen leicht, schnell mit ihr zu fühlen und um sie zu bangen. Doch dann ein harter Cut – und wir müssen uns von der liebgewonnenen Zlas verabschieden.

Ein Sprung 17 Jahre in die Zukunft: Aus Zlas‘ Sohn ist inzwischen ein junger, feinfühliger Mann namens Rob geworden, der als Stallbursche auf der Burg Skargness arbeitet und ein außergewöhnlich gutes Gespür für Tiere hat. Als auf der Burg ein großes Turnier stattfindet, soll auch das Band zwischen Menschen und Drachen neu gestärkt werden: Dazu soll sich der arrogante und hitzköpfige Sohn des Burgherren mit dem jungen Drachen Fuku Riu verbinden und so das Erbe der ursprünglichen Drachenmagier, der einstigen Ryūjin, aufrechterhalten. Doch bei der Zeremonie spürt Fuku Riu, dass nicht der Sohn des Burgherren, sondern Rob der für die Drachenmagie Auserwählte ist. Das unerwartete Duo Fuku und Rob stößt beim Burgherren und seinem Sohn natürlich auf wenig Akzeptanz. Doch als wäre diese neue Situation für Rob und den ungestümen, vorwitzigen Fuku nicht schon schwierig genug, müssen die beiden, die noch nicht miteinander vertraut sind, fliehen, denn die Anhänger der reinen Magie haben es darauf abgesehen, die Drachenmagie auszulöschen – und nachdem der Sohn des Burgherren nicht zum Drachenmagier avancieren konnte, ist es für die Anhänger der reinen Magie ein Leichtes, die Politik auf ihre Seite zu ziehen: Alle Drachenmagier werden als vogelfrei erklärt …

Zeitgleich wird die Systemanalytikerin Mi Lou aus dem Vancouver des Jahres 2055 nach Skaiyles teleportiert. Die junge Frau, die gerade erst ihren Vater verloren hat, bringt ihre ganz eigenen Probleme mit in die magische Welt und ist wie Rob und Fuku auf der Flucht …

Stephan Lethaus hat mit seinem Serienauftakt komplexe, gut durchdachte und spannende Welten geschaffen, die geschickt miteinander verwoben sind: In Skaiyles ist die Gesellschaft technologisch gesehen rückständig, dafür finden wir unterschiedliche Formen von Magie und eine Unmenge mythischer Wesen vor, deren Entdeckung mal unheimlich, mal faszinierend ist; im Vancouver des Jahres 2055 ist indes das gesamte Leben von Technologie, insbesondere künstlicher Intelligenzen und Bionik, dominiert – mit Hilfe von Chips werden die mentalen Fähigkeiten der Menschen erweitert, doch gleichzeitig ist die ganze Welt erschreckend gläsern geworden. Ich gebe zu: Anfangs war ich skeptisch, wie diese beiden so unterschiedlichen Welten miteinander verknüpft werden können und fürchtete, dass sich der Autor womöglich in dieser schwierigen Aufgabe verliert. Doch Stephan Lethaus gelingt die Symbiose dieser Welten perfekt und tatsächlich sind sich beide Welten ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint.

Auch hinsichtlich der Dramaturgie hat Stephan Lethaus ein ideales Gleichgewicht zwischen actiongeladenen Szenen und Stellen zur Konzentration auf die Charaktere gefunden. Dabei arbeitet der Autor mit einer sehr visuellen Schilderung der Ereignisse, ohne sich jedoch in Metaphern oder Unmengen an Details zu verlieren. Insbesondere die Magierduelle beim großen Turnier auf Burg Skargness sind ein Kopfkinogenuss und die spannungsgeladene Flucht von Fuku und Rob verfolgte mich sogar bis in meine Träume!

Unsere drei Protagonisten Rob, Fuku und Mi Lou ergeben ein herrliches Trio unterschiedlichster Charaktere: Rob ist eher zurückhaltend, mit so manchem Selbstzweifel und schüchtern, macht aber im Verlauf der Geschichte eine beeindruckende Weiterentwicklung durch – ebenso sein Drache Fuku, der anfangs diverse Spitzen gegen Rob ablässt, einfach weil Fuku noch zu wenig Ahnung von Menschen hat. Wie Rob lernt auch Fuku durch die besonderen Umstände schnell dazu, wird feinfühliger gegenüber seinem neuen Freund, wodurch sie schnell zu einem starken Team werden. Nichtsdestotrotz verliert Fuku nie seinen Humor, lockert dadurch so manche Situation auf und ist vor allem auch schrecklich liebenswert! Mi Lou dagegen ist zu Beginn der Geschichte zu perfekt: Sie ist klug, schön, hat Ahnung von IT, hat Survivalkenntnisse, ist sehr erfahren im Meditieren, aber auch versiert in Kampftechniken und trägt stets eine Ninja-Ausrüstung mit sich (man weiß ja nie, was einen erwartet). All das hilft ihr sehr beim Überleben in Skaiyles. Mir persönlich wurde es Mi Lou dadurch aber auch etwas zu einfach gemacht und ich wünschte mir ein wenig mehr Ecken und Kanten, die leider erst zum Ende des Buches zum Vorschein kamen. Doch das ist wahrlich Meckern auf hohem Niveau und angesichts der fesselnden Geschichte vernachlässigbar.

Fazit:

Mit „Das magische Erbe der Ryūjin“ hat Stephan Lethaus einen packenden Serienauftakt geschaffen, der mehr als neugierig auf die weitere Entwicklung der Geschichte und der Charaktere macht. Ein großartiges Debüt, das gekonnt Fantasy und Science Fiction verbindet.

Stephan Lethaus: „Das magische Erbe der Ryūjin“ (Ryūjin Saga Band 1), CreateSpace Independent Publishing Platform 2016, ISBN: 978-1533272966 / ASIN: B01H2NH0JQ