„This book is a drama in which the leading character is the infinite. Mankind takes second place.“ (S. 1202)

Es ist bereits einige Monate her, seit ich den zweiten Part von Hugos epochalem Roman hinter mir ließ. Mehrfach begann ich einen Blogbeitrag, gab aber nach ein paar Absätzen immer wieder auf, weil ich nicht wusste, wie ich all die vielen Facetten und Eindrücke in nur einem Post bündeln sollte. Da ich „Les Misérables“ aber endlich weiterlesen möchte – was ich nicht kann, solange die Gedanken zu Part 2 nicht festgehalten sind – setze ich mich nun ein letztes Mal für diesen Artikel an die Tastatur und akzeptiere, dass ich an der ein oder anderen Stelle Abstriche machen muss und nicht alles, was zu sagen wäre, auch gesagt wird …

Nach Fantines Tod und Jean Valjeans Geständnis über seine wahre Identität, verhaftet Inspektor Javert Valjean. Jean Valjean, einst Häftling Nr. 24601 wird zum Gefangenen 9430. Nun wiederholt sich die Geschichte: Wieder rettet Valjean einem anderen Mann das Leben, wieder gelingt ihm die Flucht aus seiner Gefangenschaft, wieder muss er sich eine neue Identität zulegen und illegal handeln, um zu überleben. Valjean befindet sich dabei in einem Teufelskreis: Als ehemaliger Häftling ist er gebrandmarkt, die Menschen misstrauen ihm; zudem ist ihm die Justiz, vorrangig in Gestalt von Javert, ständig auf den Fersen – so bleiben unserem Protagonisten nur illegale Handlungen, um zu überleben und sich ein neues Leben aufzubauen. Um ein normales, einfaches Leben zu führen, muss Valjean sich also strafbar machen, obwohl bzw. gerade weil er von der Polizei gesucht wird. Seinen Antrieb, in dieser Situation nicht zu resignieren, bilden sein ungebändigter Freiheitsdrang, sein Sinn für Recht und Gerechtigkeit (in der Tat hat Valjean Recht und Gerechtigkeit mehr verstanden und verinnerlicht als Inspektor Javert und die Justiz) und nun auch die kleine Cosette. Valjean versprach Fantine, sich um ihre Tochter Cosette zu kümmern und sie von den Thénardiers zu holen – dieses Versprechen hält Valjean und er wird für die kleine Cosette der Vater, den sie nie hatte. Doch ihr Leben ist keineswegs sicher; sie leben inkognito und können Javert trotzdem nicht abwimmeln. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd durch die Straßen von Paris, bei der Valjean  sich und Cosette in letzter Sekunde in ein Frauenkloster retten kann. Hinter den hohen, heiligen Mauern des Klosters finden die beiden nicht nur für die Nacht Zuflucht, sondern dank eines alten Bekannten auch ein Zuhause für die kommenden Jahre.

491 der insgesamt 1232 Seiten sind damit gelesen und noch immer bin ich vollkommen gebannt und begeistert von Hugos Werk. Als ich nach Part 1 schrieb, dass „Les Misérables“ eines der besten Bücher oder gar das beste Buch sein dürfte, das ich je las und lesen werde, war das keine Fehleinschätzung, denn ich bin weiterhin fasziniert, wie Victor Hugo ein halbes Jahrhundert in all seiner Breite zwischen zwei Buchdeckeln unterbringt. Wie auch bei Tolstoi oder Dumas steht hier nicht eine handvoll Charaktere oder ein, zwei Kernhandlungen im Fokus, sondern eine ganze Epoche mit all ihrer Politik, Moral, Religion, ihrem Alltags- und Gesellschaftsleben. Was ich bereits bei Tolstoi kennen und lieben lernte, ist bei Hugo noch einmal ein ganzes Stück stärker ausgeprägt und so fühlt sich ein Eintauchen in LesMis für mich immer an wie ein Leben in einer Parallelwelt. Da sind nicht nur die Figuren, deren Leben ich verfolge, als sei ich ein Zuschauer im Fernsehen oder Theater, nein, Hugo zieht mich vollkommen hinein in seine Zeit, zeigt mir selbst  die entlegensten Winkel und plaudert mit mir buchstäblich über Gott und die Welt. Es ist weniger eine Geschichte über Jean Valjean, Javert und all die anderen, sondern vielmehr ein Buch über das Leben, das Menschsein an sich oder – wie Hugo es selbst im oben aufgeführten Zitat so treffend beschreibt – über das Unendliche. Im Übrigen stammt dieses Zitat aus einem Abschnitt des Buches, der leider bei etlichen anderen Ausgaben den Rotstiften von Verlegern und Übersetzern zum Opfer fiel. Dabei gibt es in meinen Augen nichts, was „Les Misérables“ treffender beschreiben könnte als diese beiden Sätze!

Natürlich kann ich nachvollziehen, dass Verleger und Übersetzer manche Passagen lieber streichen, weil sie auf den ersten Blick keinen direkten, starken Bezug zur eigentlichen Handlung zu haben scheinen – berechtigt sind diese Kürzungen meines Erachtens aber nicht, da diese Textstellen trotz ihrer Längen und Abschweifungen keineswegs völlig entbehrlich sind. Neben wir zum Beispiel den Teil über die Schlacht bei Waterloo, der in manchen Ausgaben ganz fehlt, in anderen gekürzt ist: Dieser Teil ist ermüdend, das gebe ich zu, aber er verrät auch viel über die Hintergründe der Geschichte Frankreichs und der individuellen Geschichten der Charaktere in „Les Misérables“. Er schildert, warum Napoleons Niederlage bei Waterloo für Frankreich von so immenser Bedeutung war und wie es später zur Rebellion kommen kann, an der sich Marius und die Jungs von der ABC Society beteiligen.

„On that day the course of mankind was altered. Waterloo was the hinge of the nineteenth century. A great man had to disappear in order that a great century might be born. One who is Unanswerable had taken the matter in hand, and thus the panic of so many heroes is explained. It was not merely a shadow that fell upon Waterloo but a thunderbolt; it was God himself.“
(S. 310)

„The kings took it upon themselves to fill this vacuum, and Europe used it for its own re-shaping. […] Confronted by this reorganization of ancient Europe, the outlines of a new France began to emerge. The future which the Emperor had mocked made its appearance, bearing on its forehead the star of Liberty. Young eyes looked ardently towards it, but, a strange paradox, they were in love both with the future, which was Liberty, and with the past, that was Napoleon. The defeated gained stature in defeat and Bonaparte fallen appeared greater than Napoleon erect.“
(S. 320)

Der Waterloo-Abschnitt verknüpft auch das Schicksal unserer Charaktere untereinander, in dem Victor Hugo Monsieur Thénardier auf Marius‘ Vater treffen lässt, wobei letzterer Thénardiers Handeln fälschlicherweise positiv interpretiert und schwört, Thénardier nie zu vergessen. Nicht zuletzt sind die Waterloo-Szenen aber auch Abbild der Grausamkeit des Krieges …

„After the battle there was a pressing need to dispose of the corpses. Death tarnished victory in its own fashion, bringing pestilence on the heels of triumph. Typhus lurks in the shadow of glory. The well was a deep one, and so it became a tomb. Three hundred dead were flung into it, perhaps too hurriedly. Were they all dead? Legend says not, and that on the night following the burial voices were heard calling for help.“
(S. 283)

Ähnlich wie mit dem Waterloo-Abschnitt verhält es sich mit dem 7. Buch des 2. Parts („A Parenthesis“), das ebenfalls in etlichen gekürzten Ausgaben fehlt und selbst in der Penguin-Ausgabe von Übersetzer Norman Denny lediglich als Anhang enthalten ist. Auf rund 11 Seiten findet sich eine essayähnliche Auseinandersetzung Hugos mit dem klösterlichen Leben, Religion und Glauben im Allgemeinen, aber auch dem Verhältnis bzw. Zusammenhang zwischen Religion und Philosophie. Für das Verständnis des eigentlichen Romans ist diese Passage nicht relevant, doch verrät sie viel über Fragestellungen der damaligen Zeit und über Hugos persönliche Ansichten auf diese Themen. Das ist durchaus sehr interessant zu lesen – selbst für Atheisten wie mich, denn obgleich ich Hugo nicht in allen Punkten zustimmen kann, findet sich in mancher Aussage eine gewisse Allgemeingültigkeit. Tatsächlich erscheinen etliche Aussagen weniger religiös bzw. religionsbezogen, als Hugo das vermutlich beabsichtigt hatte. So spricht Hugo davon, wie wichtig ist es, das ein Mensch etwas hat, woran er glaubt. Auch als nicht-religiöser Mensch denke ich, dass jeder etwas braucht, das ihn motiviert und antreibt, das ihm Kraft und Zuversicht verleiht – was es ist, woran ein Mensch glaubt, steht dabei ja nicht zwangsweise im Zusammenhang mit Religion oder Spiritualität, nicht umsonst spricht man auch vom Glaube an die Liebe, an das Gute im Menschen oder an eine bessere Welt.

„Faith is necessary to man; woe to him who believes in nothing!“ (S. 1212)

Ihr seht, es gibt ausreichend Stoff in „Les Misérables“, worüber sich vortrefflich diskutieren und philosophieren lässt. Zusammen mit der komplexen Handlung und all den unvergesslichen Charakteren ist Hugos Roman dadurch zu Recht eines der bedeutendsten Werke aller Zeiten – dem ich von ganzem Herzen wünsche, dass künftige Verleger und Übersetzer es endlich in seiner Gänze wertschätzen und ungekürzt herausgeben.


Leselog zu Victor Hugos "Les Misérables"

– Victor Hugo: „Les Misérables“

– aus dem Französischen ins Englische übersetzt von Norman Denny

– Verlag: Penguin Classics

– Publikationsjahr: 2013

– ISBN: 978-1-846-14049-5

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