Rund 100 Seiten von „Gehe hin, stelle einen Wächter“ liegen hinter mir; Mitleserin Steffi alias Miss Booleana ist sogar noch weiter voraus geeilt – Zeit also für einen kleinen Zwischenbericht.

Wie fühlt es sich an, wieder in Maycomb zu sein – nun, da Scout kein Kind mehr ist und von allen mit ihrem richtigen Namen Jean Louise angeredet wird? Nun, für mich gleicht es weniger einer Heimkehr in die vertraute Welt. Zwar hat sich in Maycomb nicht viel getan – die Leute sind weiterhin zu konservativ und oberflächlich und die wenigen Veränderungen, die der Ort vor allem durch die vom Krieg Heimgekehrten erfährt, werden abfällig belächelt und bemängelt. Wie kann man auch Häusern einen frischen, farbenfrohen Anstrich verpassen oder den Straßen offizielle Namen geben? Tss.

Auch das „Personal“ in Harper Lees Welt hat sich wenig verändert. Tante Alexandra wohnt wieder bei Atticus und hält an ihrem rückständigen, verqueeren Weltbild fest …

Calpurnia ist weiterhin die gute Seele des Hauses und Atticus trotz seines fortgeschrittenen Alters und gesundheitlicher Probleme für so manche Weisheit zu haben.

In der Tat ist mir Atticus in „Gehe hin, stelle einen Wächter“ sogar sympathischer als in „To Kill a Mockingbird“, in dem er durchweg perfekt, überidealisiert und dadurch fast unnahbar war. Jetzt ist Atticus endlich nicht der unfehlbare Ritter in der glänzenden Rüstung.

Mit Scout werde ich dagegen auch in diesem Roman nicht so richtig warm. In mancherlei Hinsicht ist sie weiterhin der burschikose, aufgeschlossene Mensch, dann wiederum verschließt auch sie sich vor so mancher Neuerung. So stoßen selbst bei ihr die optischen Veränderungen Maycombs auf Missgefallen, allerdings nicht, weil Scout diese hässlich findet, sondern aufgrund von „‚Konservative[r] Ablehnung von Veränderung, mehr nicht'“ (S. 56). Hinzu kommt, dass Scout ziemlich zynisch geworden ist, was bei manchen Menschen zwar durchaus sympathisch wirken kann, bei ihr aber einfach nur wie eine Abwehrhaltung gegen alles und jeden erscheint.

Ein sehr lieb gewonnener Charakter aus „To Kill a Mockingbird“ fehlt jedoch in dieser Geschichte. Und sein Fehlen erwähnt Harper Lee ganz beiläufig in einem Satz zwischen lauter alltäglichen, banalen Dingen. Vor dem Hintergrund, dass „Go Set a Watchman“ vor „To Kill a Mockingbird“ geschrieben wurde, wäre das wohl nicht weiter tragisch, doch wenn man „To Kill a Mockingbird“ kennt, ist diese nebensächliche Abhandlung eines so bedeutenden Schicksals irritierend und sie hat mich als Leserin sehr beschäftigt.

Ansonsten konnte „Gehe hin, stelle einen Wächter“ auf den ersten 100 Seiten wenig Inhalt bieten, wenn gleich ich ja auch den Auftakt in „To Kill a Mockingbird“ eher wenig spektakulär fand. Doch während „To Kill a Mockingbird“ trotz des simplen Einstiegs immer voller zeitloser Gesellschaftsportraits und Humor steckte, kommt „Gehe hin, stelle einen Wächter“ bislang nicht über Banalitäten hinaus.

Das Buch lieferte zwar durchaus einen amüsanten Start mit Scouts Erlebnissen in Flugzeug und Zug …

… Doch verläuft sich die Geschichte bisher zu sehr in Scouts Beziehung zu einem Mann namens Henry, den sie zwar schon seit ihrer Kindheit kennt, der aber die Sommerferien – in denen Dill kam – immer außerhalb Maycombs verbrachte und dadurch wohl auch in „To Kill a Mockingbird“ gar nicht erst von Harper Lee aufgegriffen wurde (oder später von Lektoren gestrichen wurde?).

Ich, die auf Liebesgeschichten in Büchern weitestgehend verzichten kann, bin einerseits davon gelangweilt, wie viel Raum der Beziehungsalltag im Roman einnimmt, und andererseits frustriert davon, wie Scout mit Henry umgeht. Er tut alles für sie, nimmt sogar hin, dass sie ihn in Fragen einer gemeinsamen Zukunft ständig vor den Kopf stößt. Und sie? Sie liebt ihn eigentlich, will sich und ihm das aber nicht recht eingestehen und faselt etwas davon, dass sie sich nicht festlegen wolle und dass es doch noch andere Männer gebe, von denen einer sie womöglich glücklicher machen würde als Henry. Kurz: Scout steht sich selbst im Weg und – da geh ich (leider) ganz unobjektiv an die Lektüre heran – so etwas geht mir bei Menschen grundsätzlich irgendwann auf die Nerven.

Könnten wir dann also bitte endlich zu etwas mehr Tiefgang in der Geschichte übergehen? Das Potenzial wäre auf jeden Fall vorhanden. Ich denke da zum Beispiel an Jem, aber auch daran, dass Atticus mit Henry einen jungen Anwalt um sich hat und dass rund um diese beiden Anwälte ein spannender Plot im Zusammenhang mit Fragen der Ethik, Moral und Gerechtigkeit entwickelt werden könnte. Ob da wohl noch etwas kommt?

Abgesehen von diesen inhaltlichen Aspekten stört sowohl Steffi als auch mich die Übersetzung ins Deutsche. Denn von dem typischen Südstaaten-Slang fehlt jede Spur!

Slang in Büchern trägt für mich immer viel dazu bei, wie ich Charaktere und ihre Umwelt wahrnehme und gerade der Südstaaten-Slang hat etwas Warmes, Geborgenes, Lockeres, aber zugleich auch Ausdrucksstarkes an sich, der vor allem zu Calpurnia und den Kids hervorragend passte und in „To Kill a Mockingbird“ sofort eine Vertrautheit weckte. Scout und die anderen nun in Hochdeutsch sprechen zu lesen, ist ziemlich ernüchternd, wirkt sehr unterkühlt und durchschnittlich. Insbesondere Scouts wilde Lebendigkeit und toughe Art sind dadurch verloren gegangen. Somit hat „Gehe hin, stelle einen Wächter“ mir wieder einmal bewiesen, dass man Bücher, die in den Südstaaten der USA spielen, am besten auf Englisch liest, denn bislang ist mir noch keine deutsche Übersetzung eines Buches untergekommen, in der auch nur ansatzweise versucht wurde, den Südstaaten-Slang zu übertragen. Für die aktuelle Lektüre muss ich diese linguistische Verstümmelung leider hinnehmen, aber falls ihr noch Harper Lees „Go Set a Watchman“ oder „To Kill a Mockingbird“ lesen möchtet, tut es bitte auf Englisch!


Gehe hin stelle einen Wächter_Harper LeeAlle Beiträge zum gemeinsamen Lesen von „Gehe hin, stelle einen Wächter“:

♦Ankündigung auf Phantásienreisen: #ZurückNachMaycomb – Miss Booleana und Phantásienreisen lesen „Gehe hin, stelle einen Wächter“

♦ Erster Zwischenbericht bei Miss Booleana: Wir lesen … „Gehe hin, stelle einen Wächter“ #ZurückNachMaycomb (I)

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