Geht es um Literaturverfilmungen beschweren wir alle uns ja gerne darüber, dass die Leinwandadaption nicht mit ihrer Romanvorlage mithalten kann. Was wir dabei aber oft vergessen, ist der positive Nebeneffekt von Literaturverfilmungen: Viele Bücher werden erst durch eine Verfilmung wirklich bekannt oder zumindest wiederentdeckt und erfahren in Folge der cineastischen Umsetzung die gebührende Aufmerksamkeit. „The Danish Girl“ ist einer dieser Fälle und ich bin mehr als dankbar, dass Regisseur und Produzent Tom Hooper sowie Drehbuchautorin Lucinda Coxon die Geschichte von Einar Wegener und Lili Elbe neu erzählt haben, mich auf den zugrunde liegenden Roman von David Ebershoff neugierig machten und mir damit eines meiner Lesehighlights in 2015 bescherten.

In Einar und später in Lili habe ich mich einfach nur verliebt! Ihre Geschichte und David Ebershoffs Annäherung an das Transgender-Thema haben mich von der ersten Seite an gepackt und nicht mehr losgelassen. „The Danish Girl“ ist eines dieser Bücher, bei dem ich einerseits die Seiten nicht schnell genug lesen konnte, andererseits aber nicht zum Ende kommen wollte. Die Geschichte von Lili Elbe ließ mich auch dann nie los, wenn ich das Buch notgedrungen beiseite legen musste und wirkte nach der letzten Seite noch wochenlang nach. Heute – rund zwei Monate nach der Lektüre – sitze ich hier und suche noch immer nach den passenden Worten, um euch von meinem Leseerlebnis zu berichten. Mehrfach habe ich diesen Artikel in den letzten Wochen begonnen, abends im Bett über Buch und Blogbeitrag sinniert. Ich war frustriert, dass ich alles, was ich bei der Lektüre empfand, nicht verschriftlichen konnte. Nun habe ich aufgegeben, die richtigen Worte zu suchen. Ich habe akzeptiert, dass „The Danish Girl“ zu jenen Büchern gehört, für die es keine Worte gibt, dass ich diesem Werk einfach mit keinem Artikel gerecht werden könnte.

Lili Elbe by Gerda Wegener

Lili, portraitiert von Gerda Wegener (CC BY 4.0, via Wikimedia Commons)

David Ebershoff hat mir mit „The Danish Girl“ ein ganz besonderes Leseerlebnis geschenkt. Er holte mich in die Welt des Künstlerpaares Wegener, er ließ mich gemeinsam mit ihnen Lili entdecken und anschließend mit Lili die Welt neu erfahren. Ebershoff hat dabei gekonnt Fiktion mit Fakten vermischt. Denn obwohl Lili Elbes Geschichte eine wahre ist, hat Ebershoff keine Biografie geschrieben, sondern einen Roman. So hat er aus Einar Wegeners Frau Gerda die Amerikanerin Greta gemacht. Ebershoff ging es auch nicht um eine detailgenaue Schilderung dieses außergewöhnlichen Lebens, sondern vielmehr um ein Portrait Lili Elbes, zu zeigen, wie es für Einar Wegener war, seine wahre Identität zu erkennen und was dies für die Beziehung der Wegeners bedeutete. All dies ist ihm grandios gelungen. „The Danish Girl“ lebt von Emotionen und ist zugleich ein gekonntes Psychogramm Einars, Lilis und Gretas/Gerdas. David Ebershoff zeigt uns, wie es sich für Einar anfühlte, sein wahres Selbst zu entdecken und wie verwirrend es gewesen ist, nicht zu wissen, was es mit Lili genau auf sich hat, denn in den 1920ern und 1930ern war Transgender offiziell nicht existent und Mediziner führten Identitätsfragen im Zusammenhang mit Geschlecht überwiegend auf Schizophrenie oder Homosexualität zurück.

„It was May 1929, and he would give himself exactly one year. […] If in exactly one year Lili and Einar weren’t sorted out, he would come to the park and kill himself.“ (S. 110)

Lili Elbe 1926

Lili Elbe, Paris 1926 (Bild aus Niels Hoyer (Hrsg.) & H. J. Stenning (Übersetzer): „Man into Woman. An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener“. London: Jarrolds, 1933. CC BY 4.0, via Wikimedia Commons)

Nur im engsten Vertrautenkreis wird Lili Elbe wirklich als eigenständige Persönlichkeit und wahre Identität Einars anerkannt. Das größte Verständnis und die meiste Unterstützung zeigt dabei Greta. Sie kann sich Lilis Charme von Anfang an nicht entziehen, erkennt früh, dass Einar und Lili zwei unterschiedliche Persönlichkeiten sind, heißt Lili in ihrem Leben willkommen und findet letztlich einen Arzt, der eine Geschlechtsangleichung vornehmen kann. Doch obwohl Greta Lili gegenüber so offen ist und durch sie neue künstlerische Inspiration erfährt, ist sie doch hin- und hergerissen. Einerseits sieht sie, dass es nur noch Lili und nicht mehr Einar geben kann, andererseits bedeutet Lilis Leben, dass Greta ihren Mann und ihre Ehe aufgibt. Während Einar mit Lili sein wahres Ich gefunden hat, verliert Greta schleichend ihre große Liebe. Die damit verbundene innere Zerrissenheit Gretas stellt Ebershoff ganz wunderbar und überwiegend zwischen den Zeilen dar. Überhaupt erzählt David Ebershoff mit sehr viel Feingefühl, ohne Kitsch oder Dramatik, aber trotzdem mit viel Herz und Tiefgang. Lilis Geschichte erfährt man weniger durch das, was geschieht, als über das, was sich auf interpersoneller und emotionaler Ebene abspielt; kleine Andeutungen oder Blicke, die mehr verraten als eine detaillierte Schilderung von Ereignissen oder ausführliches Sezieren von Gedankengängen. „The Danish Girl“ lebt von seinen Figuren, vom Dabei-Sein des Lesers, der nie nur Zuschauer des Geschehens bleibt, sondern sich schon bald bei den Wegeners zuhause fühlt. Das ist natürlich Ebershoffs Schreib- und Erzählstil zu verdanken, aber auch der Authentizität, denn obwohl der Autor für den Roman so manches verändert hat, ist er beim Wesentlichen, nämlich Lilis und Einars Empfindungen sowie Gretas/Gerdas Verhalten, doch bei der Wahrheit geblieben. Als Vorlage dafür diente ihm Lili Elbes Autobiografie „Fra mand til kvinde“ (dt.: „Vom Mann zur Frau“, in Deutschland erstmals 1932 unter dem Titel „Ein Mensch wechselt sein Geschlecht: Eine Lebensbeichte“ erschienen). Dadurch ermöglichte David Ebershoff es mir, Lili und Greta ganz nah zu kommen, sie auf eine sehr private Art kennenzulernen und die beiden Frauen auf eine ganz besondere, nachhaltige Weise in mein Herz zu schließen. Der Abschied von Lili und Greta fiel mir nach der letzten Seite entsprechend schwer – umso mehr freue ich mich nun auf das mir noch bevorstehende cineastische Wiedersehen.

Fazit:

Ein berührendes, feinfühliges Portrait eines ganz besonderen Menschen und ein wahres Herzensbuch.

… Wenn ich könnte, würde ich jedem einzelnen Menschen ein Exemplar des Buches in die Hand drücken, damit wirklich jeder Lilis Geschichte erfährt.

David Ebershoff: „The Danish Girl“, Penguin Books 2015, ISBN: 978-0-14-310839-9

Nachtrag vom 27. Februar 2016:Pünktlich zum Oscar-Wochenende haben wir es gestern endlich geschafft, „The Danish Girl“ zu sehen. Leider war es für meinen Liebsten und mich aber ein enttäuschendes Kinoerlebnis! Die Umsetzung vernachlässigt den langen, schwierigen und komplexen Prozess des Bewusstwerdens der eigenen Identität und die damit einhergehende Verwirrung völlig; Gerda wirkt extrem zynisch und Lilis Schwarm Henrik furchtbar aufdringlich. Lediglich Eddie Redmayne hat überzeugt – allerdings nicht in dem Maße, wie wir es angesichts seiner überwältigenden Leistung in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ erwartet hatten. Daher: Greift lieber zu dem wunderbar feinfühligen, tiefer gehenden Roman von David Ebershoff!