Anfang des Monats hatte ich bereits angekündigt, dass ich mein Leseerleben in Zukunft gerne in tagebuchähnlicher Form mit euch teilen möchte. Als Auftakt in die neue Leselog-Rubrik kam dabei für mich nur ein Buch in Frage: Victor Hugos „Les Misérables“, das mich seit der letzten Weihnacht täglich aufs Neue zum Lesen zu verlocken versuchte.

Wie ihr wisst, liebe ich Musicals und die Bühnenadaption von Hugos Klassiker zählt dabei zu meinen absoluten Favoriten. „Les Mis“ ist das am längsten laufende Musical weltwelt (im September steht das 35-jährige Jubiläum der Urfassung an!), wurde mit über 70 Preisen ausgezeichnet und von mehr als 70 Millionen Menschen gesehen. Doch wie viele von diesen 70 Millionen Zuschauern haben wohl die literarische Vorlage gelesen? Vermutlich nur ein Bruchteil. Für mich stand indes immer fest, dass ich auch den Roman lesen muss/möchte. Das Problem dabei lag nur darin, eine gute Ausgabe zu finden.

Als ich vor rund zwei Jahren begann, mich näher mit den Übersetzungen von Hugos Romanen zu beschäftigen, sorgte das zunächst für extrem viel Frust. Im deutschsprachigen Bereich fand ich zwar oft die Angabe „vollständige Ausgabe“, doch je näher ich dazu recherchierte, desto mehr Zweifel kamen an dieser Vollständigkeit. So manche Übersetzung war 400-600 Seiten kürzer als das Original, einige umfassten sogar nur ein Drittel der Seitenzahl und bezeichneten sich dennoch als „ungekürzt“ und „vollständig“. In einer Ausgabe des dtv, die Ende der 1990er erschien, fand sich sogar der Hinweis, dass es eigentlich kein gänzlich ungekürzte deutsche Übersetzung gibt. Ich fühlte mich folglich ein wenig betrogen, insbesondere da auch viele Übersetzungen von Hugos „Notre Dame de Paris“ mit „ungekürzt“ und „vollständig“ werben, aber bei einem Blick aufs Inhaltsverzeichnis erkennen lassen, dass ganze Kapitel fehlen.

Also konzentrierte ich mich auf die Übersetzungen ins Englische. Hier gibt es nur eine wirklich ungekürzte Übersetzung – und die ist lediglich als Taschenbuch erhältlich. Ein Taschenbuch bei über 1.000 Seiten hielt ich aber für sehr unpraktikabel und vor meinem geistigen Auge sah ich das Buch bereits nach der Lektüre der Hälfte der Seiten auseinanderfallen. Eine Alternative musste her. Nach langem Suchen und Durchforsten von Foren, Literaturportalen und Lesereindrücken stand der Entschluss dann recht schnell fest: Die Übersetzung von Norman Denny sollte es sein, in der leinengebundenen Ausgabe von Penguin Classics. Norman Denny hat lediglich zwei Kapitel, die absolut nichts mit der Handlung zu tun haben, aus dem eigentlichen Roman rausgelassen – aber nicht im klassischen Sinne gestrichen, sondern einfach übersetzt in den Anhang gepackt, sodass jeder Leser selber entscheiden kann, ob und wann er diese Kapitel lesen möchte. Ansonsten hat Denny nur sehr geringfügige Kürzungen vorgenommen – überwiegend dann, wenn Hugo in einem Satz etwas schrieb, das nur eine Wiederholung von bereits direkt davor Gesagtem darstellte. Die extremste von Denny vorgenommene Kürzung findet sich im Kapitel „In the year 1817“: Hugo führte hier ursprünglich eine schier endlose Anzahl an Namen historischer Persönlichkeiten an, von denen die meisten bereits zu seinen Lebzeiten kaum jemandem ein Begriff waren und für die der Wissenschaftler Professor Marius-François Guyard in einer 1963 erschienenen Ausgabe 62 erklärende Fußnoten allein für französische Leser integrierte (die überwiegend Hugos historische Fehler erläuterten) – Norman Denny strich daher einige nichtssagende, irrelevante Referenzen. Ganz ehrlich: Wenn das die extremste Kürzung sein soll, dann können die anderen Überarbeitungen für die Rezeption von „Les Misérables“ nur „belanglos“ sein, sodass ich in dem Fall ausnahmsweise mit Kürzungen leben kann. Wenn man es genau betrachtet, könnte man Norman Dennys Übersetzung wohl als quasi-ungekürzt betrachten bzw. kommt diese Übersetzung einer ungekürzten Ausgabe von allen am nähesten.

Nachdem ich ein paar Zeilen in deutsch- und englischsprachigen Übersetzungen vergleichend las, kam ich zudem zu dem Ergebnis, dass sich die englischsprachigen Übersetzungen auch weit angenehmer lesen lassen, da sich die dortigen Übersetzer weniger steif und gestelzt ausdrückten und seltener zum Passiv griffen als ihre deutschsprachigen Kollegen. Auch legt vor allem Denny mehr Gewicht in bestimmte Passagen. Zum Vergleich ein Zitat – einmal in der Übersetzung von Norman Denny und einmal in einer Übersetzung ins Deutsche durch Edmund Th. Kaur:

„What is reported of men, whether it be true or false, may play as large a part in their lives, and above all in their destiny, as the things they do.“

„Was von Menschen gesagt wird, gilt ja in ihrem Leben, mag es wahr oder falsch sein, ebensoviel wie ihre Handlungen.“

Ich weiß nicht, wie ihr darüber denkt, doch mir sagt Dennys Übersetzung mehr zu, denn ob etwas im Leben nur „gilt“ oder für das Leben und Schicksal eines Menschen „eine große Rolle spielt“, ist für mich ein gewaltiger Unterschied – „gilt“ deute ich als „joa, es ist auch wichtig“; „eine große Rolle spielen“ indes interpretiere ich als „wesentlich entscheidend“. Da ich leider kein Französisch spreche, kann ich nicht nachprüfen, wie der Originalwortlaut war und ob Hugos Intention auf einem „nicht unwichtig“ oder „bedeutend“ lag, mich persönlich regt Dennys Übersetzung aber mehr dazu an, darüber nachzusinnen, welchen Einfluss der Ruf eines Menschen und die Gerüchte über ihn wirklich auf sein Leben haben. Und das ist doch letztlich das, was Hugo und andere Schriftsteller des 19. Jahrhunderts anstrebten: ein Portrait der Gesellschaft schaffen, Grundfragen des Lebens und des Miteinanders thematisieren, zum Philosophieren und Debattieren anregen. Dies in eine andere Sprache zu übertragen, ist Denny in meinen Augen besser gelungen als beispielsweise Kaur bei seiner Übersetzung ins Deutsche.

So viel zu meiner langen – und tatsächlich nervenaufreibenden – Suche nach der für mich bestgeeigneten Ausgabe. Doch jede Suche hat irgendwann ein Ende und in meinem Fall war dieses Ende mit einem vielversprechenden Leseerlebnis verbunden.

Für die kommenden Monate tauche ich nun ein in die Welt der Rebellen und Elenden. Was ich dabei erlebe und empfinde, werde ich mit euch in Form mehrerer Beiträge teilen. Dazu greife ich auf die vorgegebene Aufteilung des Romans zurück: „Les Misérables“ ist untergliedert in fünf Teile, die aus mehreren sogenannten „Büchern“ bestehen, welche wiederum mehrere Kapitel umfassen. Ein Leselog-Eintrag erwartet euch nach jedem der fünf Hauptteile („Fantine“, „Cosette“, „Marius“, „The Idyll in the Rue Plumet and the Epic of the Rue Saint-Denis“, „Jean Valjean“). Die ersten 120 Seiten liegen inzwischen hinter mir und schon jetzt bin ich überwältigt von dieser Lesereise nach Frankreich! Daher kann ich nicht anders, als euch bereits jetzt zu sagen: Lest dieses Buch!!!

Les Misérables in der Penguin Clothbound Classic Collection