P1030349In „Wunder“ erzählt uns Raquel J. Palacio von dem zehnjährigen August – besser gesagt: Sie lässt ihn und ihm nahestehende Personen erzählen. So erfahren wir, dass August – von seiner Familie auch Auggie genannt – zum ersten Mal eine Schule besuchen soll. Zuvor war ihm das aufgrund ständiger Operationen nicht möglich. Denn Augusts Gesicht ist alles andere als normal. Wie wir uns sein Gesicht vorstellen müssen, will uns Auggie zunächst nicht verraten: „Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer.“ (S. 10)

Doch Augusts Schwester Via und seine neuen Freunde lassen uns teilhaben an Augusts Aussehen. So nehmen seine Gesichtszüge für den Leser nach und nach Gestalt an. Wie ein Puzzle lässt uns Raquel J. Palacio Auggies Gesicht zusammensetzen. Ursache für die Abnormalitäten ist eine Kombination mehrerer Gendefekte, die ich an dieser Stelle nicht benennen möchte, damit sich zukünftige Leser selbst auf den Entdeckungsprozess begeben und August mit all seinen liebenswerten Eigenschaften kennenlernen können – August, der intelligent ist und selbstironisch mit seinem Gendefekt umgeht, aber natürlich dennoch nicht unverletzlich ist.

“Für mich ist Halloween der beste Feiertag der Welt. […] Ich kann eine Maske tragen. Ich kann wie jedes andere Kind mit einer Maske rumlaufen, und niemand findet, dass ich komisch aussehe. Niemand schaut zweimal hin. Niemandem falle ich auf. […] Ich wünschte, jeder Tag wäre Halloween. Wir könnten alle immerzu Masken tragen. Dann könnten wir uns in Ruhe kennenlernen, bevor wir zu sehen kriegen, wie wir unter den Masken aussehen.”

(Raquel J. Palacio: “Wunder”, Carl Hanser Verlag 2013, S. 92)

Raquel J. Palacios „Wunder“ ist eines der Bücher, bei dem ich mich noch immer frage, wieso ich nicht früher darauf aufmerksam wurde. Monatelang habe ich das Buch zwar immer wieder in den Buchhandlungen gesehen, doch griff ich nie danach. Nachdem mir unsere Buchhändlerin „Wunder“ jedoch ans Herz legte, mit der Sicherheit, dass es mir gefallen würde, las ich ein paar Seiten an – und war bereits nach den ersten Zeilen begeistert. Als ich mich später schließlich in Ruhe der Lektüre von Raquel J. Palacios Roman widmete, tat ich etwas, was ich zuvor nur ein oder zweimal machte: Ich zwang mich zwischenzeitlich dazu, an einem anderen Tag weiterzulesen, da ich nicht wollte, dass diese Geschichte so schnell endet – zu gern hätte ich August, seine warmherzige Familie und seine sympathischen Freunde länger als ein Schuljahr begleitet.

Raquel J. Palacios „Wunder“ ist dabei weit mehr als ein Roman über das Schicksal eines Jungen und der Umgang seiner Umwelt mit diesem. Im Fokus stehen zwar die Oberflächlichkeit mancher Menschen, das Anders-Sein und Toleranz, doch es ist zugleich eine Geschichte über das Leben als Jugendlicher – dessen Unbeschwertheiten, aber auch die Schwierigkeiten wie der Drang/ Zwang dazuzugehören, das Cool-Sein oder sich verändernde Freundschaften. „Wunder“ vereint die klassischen Schulzeit-Themen mit einem besonderen Protagonisten. Dass Raquel J. Palacio dabei nicht nur August zu Wort kommen lässt, sondern auch Freunde und Verwandte, gibt uns einen Einblick, wie die Familienmitglieder und Augusts neue Mitschüler mit dieser Andersartigkeit umgehen. So haben wir zum Beispiel Via, die ihren Bruder August vor allem und jedem beschützen möchte, andererseits aber auch gerne ein normales Mädchen wäre, anstatt immer nur die Schwester des Jungen mit dem abnormalen Gesicht. Und da ist auch Jack, der August zwar gut leiden kann, aber kein Außenseiter in der Klasse werden möchte. Raquel J. Palacio teilt ihre Figuren nicht in das klassische Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß ein – alle Charaktere machen Fehler, die nachvollziehbar sind und erhalten die Chance, aus diesen zu lernen. Zugleich sorgen die wechselnden Sichtweisen dafür, dass wir nicht nur an Augusts Leben teilhaben. So werden unter anderem Ereignisse thematisiert, die nur Via betreffen, beispielsweise der Bruch mit ihrer besten Freundin.

Raquel J. Palacio verleiht dabei jeder Figur eine ganz eigene Ausdrucksweise. Vias Freund schreibt beispielsweise nur in Kleinbuchstaben und verzichtet darauf, wörtliche Rede zu kennzeichnen. Augusts Kapitel sind hingegen von viel Humor, aber auch Ernst gekennzeichnet. Neben Gedanken und Dialogen nutzt Raquel J. Palacio Facebook-Nachrichten und E-Mails, um die Geschichte von Augusts erstem Schuljahr zu erzählen. „Wunder“ ist dadurch stilistisch genauso vielseitig wie thematisch. Es regt zum Nachdenken an, macht wütend, aber steckt auch voller Humor und liest sich – leider – viel zu schnell weg.

Fazit:

„Wunder“ – der Titel von Raquel J. Palacios Roman ist Programm! Eine großartig erzählte Geschichte über das Anders-Sein in einer der schwierigsten Phasen des Lebens: der Schulzeit. Von Wut bis lauthalsem Lachen durchlebt der Leser die gesamte Gefühlspalette. Ein Buch, das man nur ungern aus der Hand legt und dessen Figuren man bereits nach wenigen Seiten ins Herz geschlossen hat.

!!!Uneingeschränkte Leseempfehlung für jeden!!!

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