Das silberne Einhorn
Als Kinder gingen wir mit staunenden Augen durch die Welt, die sich uns so groß und voller Wunder darbot: Der unendliche Sternenhimmel, die mikroskopisch kleine Welt der Insekten, die träumerisch machende Schneekugel – alles faszinierte auf seine Art und wollte bis ins Detail erforscht werden. Je älter man wurde, desto seltener staunte man über all die kleinen Geheimnisse im Leben – einige verloren diese Fähigkeit des Wunderns gänzlich, bei anderen geriet sie nur in den Hintergrund, unterdrückt von den Pflichten und Bestrebungen, die einen durch die Tage hetzen. Max Kruse lädt uns nun ein, uns an diese Fähigkeit zu erinnern. Dazu erzählt er uns in „Das silberne Einhorn. Eine Geschichte vom Wünschen“ das Märchen von dem traurigen König und seiner Tochter. Nachdem der verwitwete König zum ersten Geburtstag der Prinzessin vergaß, eine Fee einzuladen, verflucht diese ihn und sein Königreich: Nie wieder soll es Freude erleben und der König nie wieder mit einer Königstochter vermählt werden. Der König fleht und bittet, den Fluch zurückzunehmen. Nun ist die Fee nicht gänzlich herzlos und „Bitte“ ist ein schwerwiegendes Wort, also mildert sie ihre Beschwörung ab: Bringt die Prinzessin ihr ein silbernes Einhorn, ist das Königreich von dem Fluch erlöst. So vergehen die Jahre, das Schloss verfällt und vereinsamt, der König zergeht vor Traurigkeit – bis eines Tages ein silbernes Zwergeinhorn im Park steht, um der Prinzessin und ihrem Vater zu helfen. Gemeinsam mit dem Müllersjungen machen sich die Prinzessin und das Einhorn auf den Weg zur Fee. Auf ihrer Reise erfahren sie, was im Leben wirklich glücklich macht und dass auch die Magie von Feen und Zauberern ihre Grenzen hat.

Für seine Geschichte bedient sich Max Kruse klassischer Motive der Märchenwelt. Er verbindet eine kurz(weilig)e Erzählung mit Tiefsinn. Ganz nebenbei vermittelt er dem Leser, worauf es im Leben wirklich ankommt und steckt eine Vielzahl kleiner Weisheiten in das 144 Seiten umfassende Büchlein – das tut er dabei jedoch ganz unaufdringlich, ohne erhobenen Zeigefinger. Dazu nutzt Kruse kurze, einfach strukturierte Sätze, die so treffend sind, dass man nach jeder zweiten Seite Zeilen für die persönliche Zitatesammlung notieren möchte. Er erzählt vom Glücklichsein, von Selbstlosigkeit, vom Staunen und der Faszination des Alltäglichen. Besonders schön ist das Verständnis von Magie: Dass alles Erschaffen und Verändern Zauberei ist. Ob Brot backen oder schreinern: Jeder vollbringt Tag für Tag kleine Wunder – etwas, dessen sich Kinder bewusst sind, Erwachsene jedoch nur noch selten.

„Das silberne Einhorn“ greift an wenigen Stellen auf Elemente zurück, die aus „Dornröschen“ und Peter S. Beagles „Das letzte Einhorn“ bekannt sind. Diese Gemeinsamkeiten sind jedoch minimal gehalten, sodass man nicht in die Versuchung kommt, bewertende Vergleiche zu ziehen. Max Kruses Märchen liest sich flüssig und zügig, mit liebenswerten Figuren jenseits der Schwarz-Weiß-Schablonen, die sich gelegentlich in kurzen Geschichten finden. Getrübt wird die Lektüre des Buches nicht einmal von der Vorhersehbarkeit der Handlung – dazu ist „Das silberne Einhorn“ einfach zu schön erzählt.

Die „Münchner Abendzeitung“ betitelte das Werk als „Märchen für Erwachsene“, doch ist es tatsächlich ein Buch, das keine Altersgrenze verlangt (mal ganz abgesehen davon, dass sich Märchen ursprünglich sowieso an Erwachsene richteten). Für Kinder ist „Das silberne Einhorn“ mindestens ebenso geeignet – inhaltlich wie stilistisch. Wer kein Kind mehr ist, den verwandelt die Geschichte schnell wieder in eins – und das ganz ohne Kitsch oder  „kindische“ Elemente.

Fazit:

Max Kruse schenkt seinen Lesern mit „Das silberne Einhorn. Eine Geschichte vom Wünschen“ eine wunderbare, verzaubernde und kurzweilige Lektüre, die an alles erinnert, was wirklich von Bedeutung ist. Eine Hommage an das Wundern und die Magie der kleinen, alltäglichen Dinge.