Mit „Die Belasteten. ‚Euthanasie‘ 1939-45. Eine Gesellschaftsgeschichte“ war Journalist und Autor Götz Aly in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Sachbuch“ nominiert (das erste Mal 2005 mit „Hitlers Volksstaat“). Wieder ging die Auszeichnung an einen anderen Autor. Dabei wäre die Ehrung dem Historiker und seinem neusten Werk durchaus zu wünschen gewesen! Der Nominierte zeigte sich dabei sowohl vor als auch nach der Preisverleihung als bodenständiger und fairer Schriftsteller, der seinen Kollegen die Ehre der Preise durchaus gönnt. Im Gespräch mit Robert Burdy im ARD-TV-Forum während der Leipziger Buchmesse am 14. März erklärte Götz Aly, dass es zwar schön wäre, wenn er den Preis bekäme, allerdings wisse er auch, wie es sei, ihn nicht zu kriegen: Man lebe und schreibe weiter. Zudem sei die Konkurrenz so gut und stark, dass es keine Schande sei, Zweiter oder Dritter zu werden.

Götz Aly (rechts) im Gespräch mit Robert Burdy während der  Leipziger Buchmesse.

Götz Aly (rechts) im Gespräch mit Robert Burdy während der Leipziger Buchmesse.

Im weiteren Gespräch konnte Götz Aly mein Interesse an seinem neusten Buch leicht wecken und ich kann die nähere Beschäftigung damit auch anderen nur ans Herz legen. Die Thematik der Euthanasie ist leider eine, die im Rahmen des schulischen Lehrplans meist zu kurz kommt und (nicht nur deswegen) vielen nicht allzu bekannt ist. In der Regel verbindet man mit der NS-Zeit die Konzentrationslager, über die Ermordung von psychisch Kranken und Behinderten wird selten gesprochen – weder in den Medien, noch in der Schule. Erinnere ich mich an meine eigene Schulzeit zurück, fällt mir auf, dass während des eigentlichen Geschichtsunterrichts Euthanasie nie behandelt bzw. nur kurz angerissen wurden. Lediglich weil die Hintergründe und Ereignisse während der NS-Zeit das Spezialgebiet unserer Geschichts- und Ethiklehrerin waren, unternahm unsere Klasse einen Besuch in die einstige Euthanasieanstalt in Bernburg und erfuhr so mehr über die Morde an Behinderten. Für andere Klassen hingegen blieb Euthanasie weiterhin ein Fremdwort.

Götz Aly greift in „Die Belasteten“ diese oft so vernachlässigte Thematik auf. Mehr als 30 Jahre lang beschäftigte sich der Autor damit – nicht zuletzt, weil seine Tochter unmittelbar nach der Geburt an einer schweren Hirnhautentzündung litt und seither schwer behindert ist. Aly kennt daher die (soziale) Belastung der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Er wisse, wie es ist, wenn auf Grund der Einschränkung vieles zur lästigen Pflicht wird und soziale Kontakte abbrechen. Aus diesem Grund richtete er den Fokus des Buches auf die Angehörigen der Euthanasieopfer. Der Historiker sprach während des Interviews auch Punkte an, die andere in ähnlicher Situation vermutlich nie offen zugeben würde: So komme es zugegebenermaßen gelegentlich vor, dass man als Angehöriger tatsächlich Todeswünsche gegenüber dem Behinderten hat, wenn dieser gerade besonders stark leiden muss. Einfluss auf solches Denken habe aber auch die Gesellschaft: Sie könne solche Gedanken entweder fördern oder bspw. durch therapeutische Hilfe beseitigen. Während die heutigen Gegebenheiten für Behinderte und ihre Angehörigen gut sind, sie unterstützt und professionell im Leben begleitet werden, förderte das nationalsozialistische Regime die Ablehnung Behinderter und eine geringere Empathie seitens der Angehörigen.

Rund 200.000 körperlich und geistig Behinderte wurden Opfer der Euthanasie. Heute ist jeder achte erwachsene Deutsche mit einem der ermordeten Behinderten direkt verwandt. In den betroffenen Familien war und ist dies jedoch in der Regel ein Tabuthema. Nachkommen ist oft nicht einmal bekannt, dass sie mit einem Euthanasieopfer verwandt sind. Und während ermordete Juden oder Kommunisten beispielsweise in Texten für gewöhnlich mit ihrem vollen Namen erwähnt werden, wird bei Euthanasieopfern nur ein Teil des Namens genannt (z. B. „Karl F.“) – aus Rücksicht auf die noch lebenden Angehörigen, für die dies eine Schmach sein könnte. Einer der Gründe dafür ist auch, dass ein Großteil der Angehörigen die Morde an ihren behinderten Verwandten einfach hinnahm: Bereits in einer 1920 in einer sächsischen Anstalt durchgeführten Umfrage sprachen sich 76 Prozent der befragten Eltern für eine gesetzliche Regelung aus, die es möglich machen würde, das Leiden ihrer behinderten Kinder „schmerzlos zu verkürzen“! 17 Prozent befürworteten ein Gesetz, wollten aber in solchem Fall nicht in die Entscheidung einbezogen werden, sondern diese einem Arzt überlassen. Diese Umfrage wurde 1939 auch von Hitler und der Kanzlei des Führers der NSDAP diskutiert und diente als Grundlage für die Euthanasievergehen. Eine der eingerichteten Tötungsanstalten befand sich in Pirna (Sachsen). Von 600 Deportierten interessierten sich nur 100 Angehörige, was mit ihren behinderten Verwandten geschah. Von diesen waren aber lediglich rund 20 Briefe kritisch – obwohl die Einwohner täglich den Rauch aus den Schornsteinen der Anstalt steigen sahen, den Geruch der verbrannten Leichen wahrnahmen und erlebten, wie die Busse voll zur Anstalt und leer wieder zurückfuhren!

Götz Aly begründete diese Gedanken der Angehörigen und die stille Toleranz mit der damaligen Situation: Bedingt durch den Krieg, Armut und die mangelnde finanzielle wie gesellschaftliche Unterstützung gegenüber Behinderten und ihren Verwandten, waren körperlich und geistig Kranke eine Belastung. Die Menschen sorgten sich um ihre nächsten Angehörigen zu Hause – der psychisch Kranke oder Behinderte, der weit weg im Heim oder in einer Psychiatrie lebt, war da zweitrangig. Dies erkläre laut Aly auch, weshalb sich die Deutschen während des Nationalsozialismus auch kaum für Juden, Homosexuelle und andere Opfer stark machten: Ein Volk, dass sich nicht einmal um seine eigenen Verwandten kümmere und das es hinnehme, dass seine eigenen Angehörigen verschwinden, könne oder würde sich auch nicht um andere Opfer – vor allem, wenn sie als Staatsfeinde gelten – kümmern, so das Urteil des Historikers. Für uns sind die Gedanken der damaligen Betroffenen heute erschreckend und schwer nachvollziehbarer. Götz Alys „Die Belasteten. ‚Euthanasie‘ 1939-45. Eine Gesellschaftsgeschichte“ kann daher helfen, Hinter- und Beweggründe zu verstehen.

Das komplette Gespräch aus dem ARD-TV-Forum könnt ihr aktuell auch noch in der ARD-Mediathek ansehen. Alternativ kann ich euch ein Interview mit dem Studentenradio mephisto 97,6 empfehlen.