Die stille Macht der FrauenAls die junge und ledige Antonina schwanger wird, kann sie der Enge des überfüllten Leningrader Wohnheims entkommen. Fortan lebt sie mit den drei Babuschki Glikerija, Jewdokija und Ariadna in einer Frauen-WG. Dort hat Antonina zwar auch nur ein 9,5 m2 kleines Zimmer für sich und Töchterchen Susanna, doch das ist mehr, als ihr im Wohnheim an Privatsphäre gegönnt war. Außerdem kümmern sich die alten Frauen – trotz ihrer nach außen hin harten Schale – fürsorglich um die kleine Susanna und bringen Antonina mehr Respekt gegenüber als der Rest der Gesellschaft: Als alleinerziehende Mutter eines unehelichen Kindes hat Antonina im Russland der ’50er und ’60er Jahre nicht gerade den besten Status. Dass die kleine Susanna selbst im Kindergartenalter noch nicht spricht, ist da auch nicht gerade förderlich. Doch die Babuschki, die ihre eigenen Männer und Kinder verloren haben, lieben das kleine Mädchen wie eine eigene Enkelin und widersetzen sich den russischen Behörden, die Susanna nach Antoninas Tod am liebsten im Heim sehen würden.

Chizhova erzählt eine Geschichte, in der die Frauen die Hauptfiguren sind – vom Leben schwer gezeichnet, verletzt, aber auch stark, allen Widerständen trotzend und warmherzig – doch vor allem nicht frei von Fehlern. Die drei Babuschki sind dabei das Herz dieses Buches. Nicht immer sind sie nur gutherzig – nein, sie können sogar sehr eigensinnig und barsch sein. Doch sobald sie unter sich sind oder es um die kleine Susanna geht, erweichen sie. Dann offenbaren sie ihre verletzlichen und mütterlichen Seiten, sodass man sie zunehmend lieb gewinnt. Der Schreibstil der Autorin ist dabei genauso wie Russland und die drei Babuschki: meist rau, hart und direkt, dann aber auch wieder voller Geborgenheit und Wärme. Doch als Leser muss man offen sein, da Chizhova sehr viel mit der Erzählerperspektive spielt: Das Geschehen wird von verschiedenen Figuren wiedergeben – in der Regel von Susanna, Antonina oder einer der Babuschki. Meist wechselt der Erzähler bzw. die Erzählerin mit jedem Abschnitt und ohne Information darüber, durch wessen Auge wir die Ereignisse sehen. So muss der Leser jedes Mal aufs Neue herausfinden, wer berichtet. Manchmal scheint dies recht schwierig. So gibt es wenige Passagen, die man keiner Figur zuordnen kann. Erklären lässt sich dies je nach Situation durch einen auktorialen Erzähler oder durch eine anwesende, aber unbenannte Person. Gelegentlich wechselt der Erzähler sogar innerhalb eines Abschnitts. „Die stille Macht der Frauen“ ist daher ein Buch, das mit viel Aufmerksamkeit zu lesen ist – zum Abschalten oder bei viel Ablenkung durch die Umgebung ist Chizhovas Werk nicht die passendste Lektüre. Dafür zeigt die Autorin ihrem Publikum eine vergangene Lebenswirklichkeit auf, die hierzulande wohl vielen unbekannt sein dürfte. Übersetzerin Dorothea Trottenberg hat zudem im Anhang umfangreiche Anmerkungen angeführt, die die vielen Anspielungen auf sowjetische Ereignisse erläutern.

Fazit:
Elena Chizhova erzählt eine Geschichte, in der die Hauptfiguren auf der Schattenseite des Lebens verweilen, in einem von Armut und Arbeit geprägten Alltag, der keinen Raum für Individualität, Entfaltung oder Privatsphäre lässt. Was zählt ist die Gemeinschaft. Doch die ist im Russland der ’50er und ’60er Jahr nicht gerade von Toleranz und Großmut geprägt – man muss funktionieren; Fehltritte werden missbilligt. In dieser Welt lehnen sich drei alte Babuschki gegen die sowjetische Bürokratie auf und schleichen sich mit ihrer rauen, aber typisch großmütterlichen Art ins Herz des Lesers. Allerdings nur, wenn dieser „Die stille Macht der Frauen“ aufmerksam und konzentriert liest und sich auf die nicht immer einfachen Erzählerwechsel einlässt. Wer dazu bereit ist, den erwartet eine anspruchsvolle Lektüre mit einer ungewöhnlichen Thematik.