Die AuswerterinBücher über den Zweiten Weltkrieg gibt es zuhauf. Man sollte meinen, dass sämtliche Aspekte dieser Thematik inzwischen in all ihren einzelnen Facetten behandelt wurden. Autor Elk von Lyck beweist in „Die Auswerterin“ das Gegenteil und führt seine Leser nach England. Dort lässt er sie teilhaben an einem verbalen Kampf zwischen Militarismus und Menschlichkeit – verkörpert durch Arthur Harris, Oberbefehlshaber der britischen Armee, und Emily Brown, Auswerterin von Luftbildern.

Während ihrer Untersuchung der letzten Luftaufnahmen stößt Emily auf ein ungewöhnliches Objekt, aus dem Rauchschwaden empor steigen und in dessen Nähe Menschenmassen gerade Güterzüge verlassen: das Konzentrationslager Auschwitz. Besonders eingeprägt hat sich das Bild eines kleinen Jungen, der gen Himmel blickt und dem britischen Militärflugzeug Hilfe suchend zuwinkt – Emily beschließt, ihm und all den anderen Personen zu helfen und entwickelt einen ausgeklügelten Plan, für dessen Durchführung sie zu allem bereit ist. So nimmt sie ihren Mut zusammen und verschafft sich Zutritt zu Arthur Harris, der von ihrem Vorhaben alles andere als begeistert ist und für die Situation der KZ-Häftlinge wenig Mitgefühl aufbringt. Für den Oberbefehlshaber zählen zunächst militärisch wertvollere Ziele wie Fabriken. Doch Emily gibt nicht auf und konfrontiert ihn mit ethischen Grundsätzen. In den folgenden Stunden kommt es zu einem Wortgefecht, in dem beide Seiten für ihre Zwecke argumentieren. Für Emily ist dies jedoch auch eine Hinhaltetaktik, denn während sie in Harris‘ Büro diskutieren, wird Emilys Plan bereits in die Tat umgesetzt.

Das Duell zwischen Emily und Arthur Harris entfaltet dabei eine Unmenge an Facetten. Moralische Werte, ethische Vertretbarkeit von Kriegen, der Wert von Menschenleben gegenüber ökonomischen Vorteilen, die Einhaltung des Versailler Vertrags – die Unvereinbarkeit von Gewissen und strategischen Absichten wird immer wieder deutlich. Auch die Alliierten waren keine Heilsbringer, sondern verfolgten eigene Ziele und haben Menschenleben auf dem Gewissen – etwas, das in der Aufarbeitung der Geschichte oft außen vor gelassen oder dadurch entschuldigt wird, dass man nur so gegen Hitler vorgehen konnte.

Die militärischen und moralischen Hintergründe des Zweiten Weltkrieges hat Autor Elk von Lyck ausführlich recherchiert und dargelegt. Auf nur etwa 130 Seiten präsentiert er den Lesern eine gewaltige Masse an Informationen und Meinungen, schafft es aber gleichzeitig, den Leser nicht mit Fakten zu erdrücken oder die Handlung des Buches in den Hintergrund geraten zu lassen – im Gegenteil: Das historische Wissen dient Harris‘ und Emilys Argumentation und trägt den Verlauf der Geschichte. Als Sieger jedes Wortgefechtes geht dabei stets Emily als Stellvertreterin der Ethik hervor – ein Ausgang, den es in der Realität weltweit zu erstreben gilt. So bleibt „Die Auswerterin“ ein Appell an die Menschlichkeit in jedem von uns und fordert zugleich auf, Dinge aus verschiedensten Sichtweisen zu hinterfragen.

Fazit:

„Die Auswerterin“ richtet sich an alle, die hinter das Altbekannte oder Offensichtliche schauen, an jene, für die es mehr Facetten als nur Schwarz und Weiß gibt und vor allem auch an die Leser, die meinen, die gänzliche thematische Breite des Zweiten Weltkriegs schon zu kennen. Es ist erstaunlich, wie viele Informationen Elk von Lyck in „Die Auswerterin“ gesteckt hat, wie viel Neues er seinen Lesern über den in Schule und Kultur so oft behandelten Zweiten Weltkrieg nahe legt. Selbst Leser mit gutem Vorwissen werden auf Aspekte und Fakten stoßen, die ihnen unbekannt waren. Elk von Lyck hat die historischen Hintergründe dabei sehr gekonnt in die Handlung des Buches eingeflochten und eine konstant bleibende Spannung erzeugt, die nicht zuletzt auf die beiden Hauptcharaktere zurückzuführen ist, die selbst den stärksten Argumenten ihres Gegenübers immer wieder kontern können.

Für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar bedanke ich mich vielmals bei Autor Elk von Lyck.