Können Kriminelle gute Menschen sein? Die im Aeternica Verlag erschienene Kurzgeschichtensammlung „Diebesgeflüster“ beweist, dass Diebe mehr als nur Antagonisten sein können. Die vier Geschichten, die in unterschiedlichen Epochen in Europa und dem Orient spielen, erzählen von Gesetzesbrechern, die eigentlich ganz sympathische Personen sind und deren Handeln man nicht nur nachvollziehen kann, sondern auch als gerechtfertigt erachtet. Felicitas Brandt, Dennis Frey, Angelika Diem und Tanja Rast präsentieren den Lesern ihres gemeinsamen E-Books Figuren, die nicht aus Habgier agieren, sondern aus Gerechtigkeitssinn oder um zu überleben – immer begleitet von der Magie. Die Erzählungen der vier Autoren bieten dabei eine Vielfalt, die für jeden Leser etwas bietet. Sehr humorvoll geht es in Tanja Rasts „Dame Jiro“ und Dennis Freys „Pascal und der Gentleman“ zu. Beide folgen dabei dem klassischen Spannungsbogen, wodurch man die jeweiligen Coups von Anfang bis Ende begleitet. In Angelika Diems Geschichte „Das Grauen im Spiegel“ und Felicitas Brandts „Horus, der Sohn der Diebe“ stürzt der Leser hingegen unmittelbar ins laufende Geschehen hinein. Im weiteren Verlauf erwarten ihn dann eine starke Dramaturgie sowie eine für die Kürze der Erzählungen sehr ausgefeilte Welt.

Den wohl ungewöhnlichsten Protagonisten der vier Kurzgeschichten hat dabei Dennis Frey geschaffen: Sein Held, der junge Pascal, ist zwar hochintelligent, hat aber einen Hang dazu, Gespräche und Handlungen vorher mehrfach zu testen, was ihn zu einem Sonderling in der Londoner Gesellschaft macht. Dies hindert den Jungen jedoch nicht daran, das Unrecht, das anderen geschieht, zu rächen. Gepaart mit der großartigen, voller Witz steckenden Erzählweise hebt sich „Pascal und der Gentleman“ nicht nur deutlich von den anderen Kurzgeschichten ab, sondern steckt auch voller Charme.

Tanja Rast erzählt in „Dame Jiro“ von dem Duo Evanne und Jiro, die den größten Raub ihres Lebens in Angriff nehmen. Doch gerade bei diesem wichtigen Coup ist Jiro fast vollständig auf sich allein gestellt: Verkleidet als Frau muss er nicht nur seine Gegner im Auge behalten, sondern sich auch mit Reifrock und Annäherungsversuchen seitens des Magischen Rats herumschlagen. Die Kurzgeschichte bildet einen lockeren, mal amüsanten, mal spannenden Auftag der Anthologie. Einziger Kritikpunkt: Der Leser erfährt erst sehr spät, dass Evanne und Jiro Geschwister sind, was den Blick auf das Verhältnis der beiden doch stark verändert, da man beide vor dieser Information für ein Paar oder zumindest für sehr enge Freunde hält.

Um Leben und Tod geht es in sowohl in Angelika Diems „Das Grauen im Spiegel“ als auch in Felicitas Brandts „Horus, der Sohn der Diebe“. In  Diems Kurzgeschichte treffen wir auf Kalim, der mit dem folgenreichsten Beutezug seines Lebens konfrontiert wird. Von seinem Freund verraten, flieht er durch die Stadt und kann sich auf niemanden verlassen. Allein die Magie vermag sein Leben zu retten – denn sollte Kalim erwischt werden, würde man keine Gnade mit ihm walten lassen. Nicht ganz so auf sich allein gestellt wie Kalim sind hingegen die Helden in Brandts Kurzgeschichte. Hier hat sich eine ganze Diebesgemeinschaft aus unzähligen Kindern gegründet. Doch leichter als der Held in Diems Erzählung haben es auch Brandts Figuren nicht. Im Gegenteil: Die Autorin ist nicht gerade zimperlich gewesen und lässt die Charaktere aus „Horus, der Sohn der Diebe“ einige Qualen erleiden. Dass die Geschichte unter diesen Voraussetzungen nicht für alle Personen gut ausgehen kann, versteht sich daher wohl von selbst. Doch wer gegen das Gesetz verstößt, lebt stets in Gefahr – dies gilt für Jac, den alle Horus nennen, ebenso, wie für alle anderen Protagonisten der Kurzgeschichten in „Diebesgeflüster“.

Fazit:

Mit der E-Book-Anthologie „Diebesgeflüster“ haben der Aeternica Verlag sowie die Autoren Dennis Frey, Angelika Diem, Tanja Rast und Felicitas Brandt eine unterhaltsame, abwechslungsreiche Kurzgeschichtensammlung geschaffen, die durch zum Teil ungewöhnliche Charaktere und weite Interpretationen des Diebes-Begriffs für jeden Geschmack etwas bereit hält. Die Helden sind dabei jedoch stets männlichen Geschlechts – eine unerschrockene Einbrecherin oder eine unverfrorene Mädchenclique wären für die Folgebände daher eine interessante Option.

Ein großes Dankeschön an Aeternica und Angelika Diem für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplares!

Nachtrag vom 20.11.2012: Wie mir der Verlag gerade mitteilte, werden im zweiten und dritten Band der „Diebesgeflüster“-Reihe auch Mädchen bzw. Frauen stehlen und plündern. Ich bin gespannt auf darauf! Band 2 soll übrigens in rund vier Wochen erscheinen.