Die 15-jährige Delilah ist an ihrer Schule eine Außenseiterin und dass sie seit rund einem Monat immer wieder das Märchenbuch „Between the Lines“ liest, würde diese Situation wohl kaum besser machen. Daher vertraut sie ihre neue literarische Leidenschaft nicht einmal ihrer besten Freundin Jules an – es reicht schließlich schon, dass Delilahs Mutter sich diesbezüglich Sorgen macht. Warum dieses Märchen eine solche Anziehungskraft auf sie ausübt, kann sich Delilah selbst nicht so recht erklären, doch fühlt sie sich dem Prinzen Oliver automatisch nah, nicht zuletzt deshalb, weil er ebenso wie sie ohne Vater aufwachsen musste. Eines Tages fällt Delilah eine Veränderung im Buch auf und schon bald spricht Oliver zu ihr. Er erzählt ihr vom Leben als Figur in dem Buch, dass jeder Protagonist nur eine Rolle spielt, wenn das Buch aufgeschlagen wird, ansonsten aber jeder ein von der Geschichte unabhängiges Leben führt. Doch beschränken sich die Freiheiten der Figuren auf alles, was von der Autorin einst gegeben wurde – die Welt ist klein, die Aktivitäten begrenzt und neue Leute lernt man selbstverständlich auch nicht kennen. Oliver sehnt sich danach, mehr zu sehen und zu erleben. Schon seit langer Zeit wünscht er sich daher, das Buch verlassen zu können und die Welt seiner Leser kennen zu lernen – nur ist es Oliver bisher nie gelungen, Kontakt zu einem von ihnen herzustellen. Fortan versuchen er und Delilah daher alles, um Olivers Traum zu verwirklichen. Doch das stellt sich einerseits als nicht so einfach heraus und sorgt andererseits in Delilahs Leben nur für noch mehr Probleme mit ihrer Mutter und mit Jules.

Die erst 16-jährige Samantha van Leer hat in Kooperation mit ihrer berühmten und erfolgreichen Mutter ein solides Debüt abgeliefert. „Between the Lines“ ist bei Weitem nicht das, was Picoult-Leser gewöhnt sind – ein anderes Genre, eine andere Zielgruppe und damit verbunden ein anderer Sprachstil und andere Themen. Die Geschichte selbst ist dabei voller guter Wendungen, sympathischer Charaktere und bildet eine leichte, unterhaltsame Lektüre für Jung und Alt. Das Lesen macht Spaß, auch wenn die Geschichte und der Stil vielleicht nicht für jeden Picoult-Leser etwas sind. Wer als Picoult-Fan zu „Between the Lines“ greift, sollte daher keinesfalls mit den gleichen Erwartungen wie an ihre Erwachsenen-Romane herangehen, sondern im Hinterkopf behalten, dass sich das Buch einerseits an eine gänzlich andere Lesergruppe wendet und andererseits eben ein gemeinsames Projekt ist, wodurch das Buch natürlich auch mindestens ebenso stark von Tochter Samantha geprägt ist, deren Idee das Werk auch ursprünglich war.

„Between the Lines“ unterteilt sich in drei Erzählperspektiven – dem eigentlichen Märchen, das von einem auktorialen Erzähler geschildert wird, sowie Olivers und Delilahs Sichtweisen mit ihnen als Ich-Erzähler. Jede Perspektive ist dabei anders gestaltet: Das eigentliche Märchen erscheint in schwarzer Serifenschrift mit kunstvollem ersten Buchstaben pro Kapitel und wunderschönen, detaillierten, bunten Illustrationen über jeweils eine ganze Seite. Dem entgegen stehen dunkelblaue Serifenschrift für Oliver, grüne serifenlose Schrift für Delilah sowie vereinzelte kleine ,schwarze Bilder in ihren Kapiteln. Das macht das Lesen einerseits zum optischen Genuss, andererseits macht die Abwechslung das Lesen für die Augen sehr angenehm.

  

Obwohl es sich um ein Märchen und eine Liebesgeschichte handelt, kommt „Between the Lines“ glücklicherweise mit weitaus weniger Kitsch aus als die meisten anderen Teenager-Liebesromane. Oliver, Delilah und ihr Umgang miteinander sind realistisch und sie mögen einander nicht aus Faszination der Fremdartigkeit des Anderen oder wegen dessen Schönheit, sondern schätzen auch die Schwächen und Macken aneinander, mögen den jeweils anderen zum Teil gerade wegen dieser. Auch lernen beide aus ihren Taten, die sie im Rahmen ihrer Befreiungsaktion verüben und hinterfragen sich und ihr Vorhaben.

Etwas verwirrend mag auf den Leser Olivers Märchenwelt wirken: Er kennt Wörter und Gegenstände, die es in seiner eigentlichen Zeit nicht geben dürfte. Beispielsweise wünscht Oliver auf deutsch „Gesundheit“, nachdem der eigentliche Bösewicht Rapscullio niesen musste oder beschreibt die Farbe eines Schmetterlings als elektrisch-blau – ein Farbton, der erst im 19. Jahrhundert aufkam. Der Grund für so moderne Worte und Gegenstände erschließt sich dem Leser erst später: In die Märchengeschichte flossen nicht nur die Dinge, die von dessen Autorin hineingeschrieben wurden, sondern alles, was während des Schreibvorgangs im Bewusstsein der Autorin vorging.

Ein paar Unstimmigkeiten haben sich aber dennoch in das erste Jugendbuch von Jodi Picoult und Samantha van Leer eingeschlichen. So stimmen die Illustrationen nicht immer mit den Angaben im Text überein. Es heißt unter anderem, dass es nur eine Seite gibt, auf der Oliver allein zu sehen ist. Kommt man als Leser jedoch selbst zu dieser Seite und dem erwähnten Bild, erkennt man oben bereits Rapscullio. Das von Delilah und Oliver beschriebene Bild findet sich in dieser Art nur vor Beginn der eigentlichen Geschichte. Dafür gibt es für den Leser ein anderes Bild, auf dem Oliver allein ist. Auch die Schlussszene des Originalmärchens stimmt nicht mit der im Buch präsentierten überein – statt am Strand umgeben von allen Märchenfiguren zu heiraten, küssen sich Oliver und Prinzessin Seraphima vor grünem Buschwerk in einer Nahaufnahme. Dass die Illustrationen nicht an das eigentliche Märchen angeglichen wurden, ist daher schade, soll man als Leser doch eigentlich das Gefühl bekommen, das gleiche Märchen zu lesen wie Delilah.

Daneben gibt es zwei inhaltliche Fehler: So wird Seraphimas Haar von Oliver und innerhalb des Märchens als silberfarben beschrieben, Delilah bezeichnet es hingegen als blond und in ebendieser Farbe wurde Seraphimas Haar auch in der Illustration abgebildet. Die zweite Unstimmigkeit besteht in einem Ereignis, dass Delilah erlebte. Auf Seite 28 erzählt sie, dass sie einer Mitschülerin aus Versehen das Knie gebrochen hatte, woraufhin sie jeder in der Schule hasste. Zu ihrem Glück sei Jules erst nach dem Vorfall an die Schule gekommen, die als Neue keinerlei Bezug zu dem Vorfall hatte und daher auch Delilah unvoreingenommen kennenlernte. Später, auf Seite 155, unterhält sich Delilah mit Jules und der damalige Unfall wird angesprochen. Hier heißt es plötzlich, dass Delilah nach dem Vorfall sofort Jules angerufen habe und diese die erste Person war, die hiervon erfuhr.

Clever hingegen ist der kleine Insider, den Jodi Picoult und Samantha van Leer in ihr Jugendbuch-Debüt eingeflochten haben. Im Märchen stellt sich Oliver nach einer Einladung zum Essen die Frage: „Was, wenn ich das Abendessen bin?“ Eben jene Situation hatte Samantha van Leer in der Grundschule in einer vierzigseitigen Geschichte für die Schule geschildert. Warum dieser Satz eine Bedeutung für Jodi Picoult und ihre Tochter hat bzw. was genau dahinter steckt, wird im Vorwort geschildert. Dass dieses Element dann in Samanthas professionellem Debüt aufgegriffen wurde, ist eine witzige Idee, die aber sicherlich den meisten gewöhnlichen Lesern entgehen dürfte.

Fazit:

„Between the Lines“ ist aufgrund einiger kleiner Fehler nicht perfekt und grenzt sich deutlich von Jodi Picoults bisherigem Werk ab. Doch haben die Bestsellerautorin und ihre Tochter Samantha van Leer ein liebenswertes, leichtes und unterhaltsames Jugendbuch geschrieben, das mit einer großartigen optischen Aufmachung daherkommt, für die sich viele Verlage heutzutage leider nur selten die Mühe machen.