„Aber Noah hatte keine andere Wahl. Er konnte nicht bleiben. Da durfte ihm niemand einen Vorwurf machen. Wirklich nicht. Es war auf jeden Fall das Beste, wenn er losging, um sich alleine in der Welt zurechtzufinden. Immerhin war er schon acht Jahre alt und hatte in seinem ganzen Leben noch nichts Großes geleistet.“

(John Boyne: „Der Junge mit dem Herz aus Holz“, Fischer 2012, Seite 8)

Und so verlässt der kleine Noah eines Morgens sein Elternhaus und begibt sich auf die Reise seines Lebens. Dass hinter seinem Verschwinden mehr als nur Abenteuerlust steckt, wird dem Leser schnell klar. Doch die wahren Beweggründe werden erst später offenbart – zunächst Stück für Stück in kleinen Andeutungen, bis Noah genug Kraft findet, sein Herz zu öffnen und der Wahrheit ins Antlitz zu blicken. Behilflich ist ihm dabei ein ganz besonderer Spielzeugmacher: Nachdem Noah durch mehrere Dörfer gezogen ist, steht er plötzlich vor einem ganz besonderen Baum und spricht mit einem Dackel, bis seine Aufmerksamkeit auf das merkwürdigste Haus fällt, das er je gesehen hat. Neugierig tritt der kleine Ausreißer hinein und sieht sich in dem Geschäft, das nur Holzspielzeug verkauft, um. Der Inhaber des Ladens verwickelt Noah in ein Gespräch und bietet ihm etwas zu essen an. Aus diesem ersten Kontakt entwickelt sich in den kommenden Stunden eine enge Freundschaft und lebenslange Verbundenheit. Der Spielzeugmacher erzählt seine spannende Lebensgeschichte und ist seinem kleinen Gast ein Vertrauter, ohne Noah zu seinem Abhauen auszufragen. Wie Noah hat auch der Spielwarenhersteller als Kind sein Zuhause verlassen. Durch die Erzählungen und die Gutmütigkeit des alten Mannes fasst Noah Mut, öffnet sein Herz und spricht sich von der Seele, was ihn bedrückt, bis er schließlich sogar bereit ist, nach Hause zurückzukehren. Den alten Mann wird er jedoch nie vergessen – denn dieser ist wahrlich etwas Besonderes. Auch wir Leser kennen den Spielzeugmacher aus unserer Kindheit, doch war er damals selbst ein Kind. Wer er ist, wird erst zum Ende des Buches verraten, doch wer zwischen den Zeilen liest und Boynes feine Andeutungen richtig deutet, kommt schnell hinter die Identität des alten Mannes. Der Auflösung hätte es eigentlich gar nicht bedurft, hat Boyne doch schon in „Der Junge im gestreiften Pyjama“ bewiesen, dass kleine Anzeichen, dass das Unausgesprochene mindestens ebenso wirkungsvoll sein kann, wie das Eindeutige. Doch dann ist daran zu denken, dass „Der Junge mit dem Herz aus Holz“ ein Kinderbuch ist – für die Jüngsten sollte die klare Auflösung des Rätsels um den alten Mann nicht fehlen. Ein Kinderbuch … ja, aber eines, dass seinen Zauber auch bei Erwachsenen entfaltet, dass bei jenen vermutlich sogar noch viel stärker wirkt, dessen gänzliche Tiefe nur von ihnen erfasst werden kann. Als Erwachsener „Der Junge mit dem Herz aus Holz“ zu lesen, ist vergleichbar mit dem Ansehen alter Fotoalben oder das Wiederentdecken einer Geschichte, die man als kleines Kind mochte und die man im Laufe der Jahre völlig vergessen hatte. Und genau wie Noah staunt man auch als Leser über den Spielzeugladen mit all seinen wunderlichen Wesen: Da gibt es Marionetten, die sich bewegen, wenn man nicht hinsieht, wandernde Fußbodendielen, eine einzige Tür, die gemeinsam mit Noah und dem Spielzeugmacher die Treppen aufsteigen muss, damit diese das obere Stockwerk betreten können, eine Türglocke, die das Klingeln immer wieder vergisst und viele andere skurrile Dinge. Mit all seinem geheimnisvollen Interieur erinnert der Spielzeugladen zuweilen an das Spielwarengeschäft im Film „Mr. Magoriums Wunderladen“ und ist doch so anders.

Das von John Boyne geschriebene Märchen scheint auf den ersten Blick Noahs Geschichte zu erzählen; dies lässt insbesondere der wundervoll schlichte englische Originaltitel „Noah Barleywater Runs Away“ erahnen. Doch fragt man sich beim Lesen, wessen Geschichte hier erzählt wird – Noahs oder die des Spielzeugmachers? Der deutsche Titel „Der Junge mit dem Herz aus Holz“ ist zumindest mehr als nur eine Anlehnung an Boynes Bestseller „Der Junge im gestreiften Pyjama“. Auch wer wem am meisten hilft, lässt sich nicht eindeutig beantworten, denn dem alten Spielzeugmacher tut Noahs Gesellschaft mindestens ebenso gut und sie verhilft dem Mann, endlich das schwierigste Vorhaben seines Lebens umsetzen zu können. Die Geschichten dieser beiden Protagonisten sind dabei farblich voneinander abgegrenzt: Noahs Abenteuer und seine Zeit mit dem Spielzeugmacher sind in klassischem Schwarz gehalten, die Erinnerungen des Mannes, die in der Ich-Perspektive erzählt werden, sind hingegen in Blau gehalten. Untermalt wird die Geschichte mit den schlicht gehaltenen Illustrationen von Oliver Jeffers.

Nicht unerwähnt bleiben soll der liebenswerte Schreibstil Boynes in der Rolle des allwissenden Erzählers: humorvoll, unbeschwert, dem Trotz und der Naivität von Kindern eine Stimme gebend und keck – ja, keck, denn ein treffenderes Wort lässt sich hierfür kaum finden.

Fazit:

John Boyne scheint alles schreiben zu können – egal, ob für Erwachsene oder für Kinder, ob Reales oder Zauberhaftes. Dabei gelingt es ihm immer wieder, schwierige Themen für junge Leser altersgemäß und in ganz besonderer Art und Weise aufzubereiten. Auch „Der Junge mit dem Herz aus Holz“ steckt voller Tiefgang und cleveren Andeutungen. Obwohl es ein Märchen mit vielen traurigen Aspekten ist, ist es doch frei von erdrückender Schwere und vermittelt auf jeder Seite Lebensfreude, Leichtigkeit und eine ganz besondere Magie. Wie schon bei Boynes Bestseller „Der Junge mit dem gestreiften Pyjama“ stellt sich bei diesem Werk erneut die Frage, ob die Geschichte wirklich für Kinder gedacht ist oder nicht mindestens ebenso für Erwachsene. Zu empfehlen ist das wunderschöne Märchen von dem Ausreißer Noah und dem alten Spielzeugmacher jedenfalls jedem, der zwar erwachsen ist, sich den Zauber der Kindheit jedoch bewahrt hat.